Mein WM-Tagebuch 2006 - Erinnerungen


Mein WM-Tagebuch 2006

"Fußball ist ein Spiel, bei dem 22 Männer auf einem Platz stehen. Und am Ende gewinnen die Deutschen." Sagte der englische Stürmer Gary Lineker, Gewonnen ham´ wir. Sind zwar kein Fußball-Weltmeister geworden. Aber "Weltmeister der Herzen". Dann machen wir´s eben mit den Sportfreunden Stiller in 2010. Den Titel des Party-Weltmeisters haben wir uns im Sommer unseres Lebens wahrlich verdient. Aufgeblüht – und nicht aufgebrüht - im Glanze dieses Glückes. Die "Love Generation" hat in der Frankfurter MainArena und in Alt-Sachsenhausen rund um die Frau Rauscher aus der Klappergass´ vier Wochen lang ihr schwarz-rot-goldenes Woodstock zelebriert. Nachfolgend ein paar Fotos zur Erinnerung an den Kaiser-Sommer des Jahres 2006. 


Nicht nur das saugute Wetter hatte in den deutschen Feuilletons nahezu alle berufenen Bedenkenträger bei 30 Grad im Schatten eiskalt erwischt. "Ist Deutschland denn auf den Hund gekommen?" fragte man sich, als die Patriotismusdebatte so gelassen durch Deutschland schwappte, wie der Main durch Frankfurt. Und - mit Ausnahme einiger weniger Betroffenheits-Funktionäre – den meisten Leuten dann auch irgendwo vorbei ging.


Fragen über Fragen stürmten in den vier WM-Wochen auf uns ein. Zum Beispiel, ob nur echte Spießer nicht Standarte fahren? In Anbetracht dieser Entwicklung schwelgte sogar unser Bundespräsident in Glücksgefühlen. Per BILD teilte er dem deutschen Volke seine Freude mit, endlich nicht mehr allein mit dem deutschem Wimpel am Wagen unterwegs sein zu müssen. Doch wir werden ihn enttäuschen. Nach dem 9. Juli rollt das Volk die Autofahne wieder ein. Weitaus relevanter waren für sein Volk so Fragen wie: "Wie viel Stundenkilometer verträgt mein Fähnchen?" oder "Wann knickt es wirklich ab?" Dafür gab es vom ADAC selbstverständlich vorab kluge Prognosen. Doch der Praxistest zeigte, dass die vorhergesagten Haltbarkeitswerte leider mit hoher Fehlertoleranz behaftet waren. Schwarz-Rot-Gold hält eben doch "immer einmal mehr" als prognostiziert. Und echter deutscher Teamgeist knickt nicht einfach mal so weg.


Doch was hätten wir getan, wenn uns die Fahnen ausgegangen wär´n? Noch so ne Frage, wo es Deutschland beinahe kalt erwischt hätte. Bis zu 20 Millionen Schwarz-Rot-Gold sollen über die Ladentische gegangen sein. Und ausgerechnet jetzt, als Deutschland so ein staatstragendes Problem wälzte, teilte uns Frau Christiansen mit, dass sie dafür nicht mehr zuständig sei, weil sie privatisieren werde. Verlässt uns, die ihr Sonntag für Sonntag nach dem Tatort die Einschaltquoten gesichert haben, schnöde für einen ausländischen Nietenhosenproduzenten. Müssen wir die Neuauflage der schwarz-rot-goldenen Wiedervereinigung also ohne öffentlich-rechtliches Fernsehblabla wuppen? Mal ganz ehrlich: nach vier Wochen Public Viewing schaffen wir auch das.


In Grand-Prix-d´-Eurovision-Glitzer-Dimensionen ausgedrückt, hat sich Deutschland während der WM auf dem Patriometer, das Spiegel-Online jeden Tag aktualisierte, mindestens "douze points" verdient. Okay, sind wir mal ehrlich, nach dem Spiel gegen Italien gab´s nen emotionalen Knick. Aber ein "Sanierungsfall", wie Frau Merkel wortreich beteuerte, sind wir noch lange nicht. Wir haben einfach im Halbfinalspiel zwei Minuten vor Schluss geschwächelt und nicht aufgepasst, als der Schwalbenzüchterverein von der adriatischen Halbinsel mit vier Stürmern völlig überraschend noch mal angriff.


Und sind wir mal ehrlich, ist es eine Schande gegen einen Weltmeister, der die wunderbare Institution des Autokorsos erfunden hat, zu verlieren? Noch mehr Fahnen, noch höhere Stangen, noch lauteres Gehupe geht nicht. Wobei die Italiener hier in Frankfurt am Anfang nicht sooooo engagiert waren. Angeblich drehten die ihre Runden lieber in Offenbach. Erinnern wir uns noch, wie schlimm das Leben in Deutschland vor dem Anpfiff der WM war? Alles war ein einziger Problemfall. Bedroht von einem italienischen Problembär, Hooligans, Terroristen, Parallelgesellschaften, Rütli-Schülern und nicht zu vergessen: die Vogelgrippe.


Der einzige Vogel, der die WM in Frankfurt wirklich ernsthaft bedroht hat, war eine zierliche Amsel, die beim Spiel Deutschland gegen Schweden vor lauter Aufregung über 80.000 schreiende Fans völlig desorientiert in den LED auf dem Main knallte. Und mit der Kamikaze-Aktion das Public Viewing auf der südlichen Mainseite für ca. 20 Minuten ausschaltete. So entging knapp der Hälfte der Zuschauer der Elfmeter der Schweden. Der aber von Henrik Larsson peng auf knall verschossen wurde. Und somit die Zuschauer im Tal der Ahnungslosen auf der Südseite des Mains praktisch nicht wirklich was entscheidendes versäumt hatten. Zum Thema Elfmeter später aber noch mal mehr. Jetzt erstmal zurück zur deutschen Flagge. Denn Fahnenflucht war im Sommer des Jahres 2006 mega out.

Wussten Sie, dass es so etwas wie "Flaggenethik" gibt? Die Süddeutsche interviewte zur Klärung solch staatstragender Fragen den Fahnenwart im Berliner Reichstag. Über protokollarische Regeln für das Hissen und Einholen einer echten deutschen Flagge. Grundsätzlich muss Sie – auch wenn´s etwas Banane klingt - bei Sonnenaufgang hoch- und bei Sonnenuntergang wieder runtergeholt werden. Ist eigentlich logisch. Aber in der Realität war das nicht wirklich durchzuhalten.

Besonders wenn Fußballspiele nach 21.00 Uhr angepfiffen werden und dann auch noch in die Verlängerung gingen. Man stelle sich mal vor, wie Johannes B. Kerner uns fürsorglich pädagogisierend in der 75.ten Minute per ZDF mitteilt: "Sorry, Leute, Abpfiff, denkt dran, das Runde muss ins Eckige und eure Fahne jetzt kollektiv von der Stange." Und mal ehrlich, wer hat wirklich gewusst, dass Schwarz-Rot-Gold mit dem Wappen des Bundesadlers in der Mitte die Bundesdienstflagge ist? Die laut Verwaltungsvorschrift zum Gesetz über das öffentliche Beflaggen ausschließlich Bundesbehörden vorbehalten ist. Wenn Normalos den Bundesadler schwenken, ist das also ne Ordnungswidrigkeit und kann mit einer Geldbuße geahndet werden. Das wär´ aber voll der Spaß geworden, hätten die Ordnungshüter in der MainArena in der Halbzeitpause mal an alle Bundesadler-Fähnchen nen Strafzettel geklebt. Und was lernen wir daraus? Könnte ruhig öfters so entspannt in der deutschen Republik zugehen. 

Der metropolite Dreiklang am Frankfurter Mainufer lautete nämlich "Klinsmann, Lehmann, Ballermann". Man schien irgendwie ins Jahr 1989 zurückgekehrt zu sein. Als wir uns nach dem Fall der Mauer als das "glücklichste Volk der Welt" fühlten. Nur eben diesmal ne Party ohne Politik veranstalten durften. Und das zu Ehren der Klinsmänner, die vor einigen Wochen noch als "Gurkentruppe" oder als "Rumpelfüßler" oder einfach nur als "Schwachmaten" bezeichnet werden durften. Waren wir im Sommer 2005 schon alle Papst, so durften wir dieses Glücksgefühl im Fußballsommer des Jahres 2006 ins Himmlische steigern.

Und was wurde im Vorfeld der WM nicht nur heftig über die Ergebnisse der Stiftung Warentest betreffend unserer Fußballstadien, sondern auch über unsere No-Go-Areas diskutiert. Über tumbe rechte Faschos, die bis dahin quasi das Monopol auf Schwarz-Rot-Gold hatten. Aus, vorbei, ohne lang zu fackeln, haben die Bundesbürger den Ewig-Gestrigen das nationale Thema entwendet. Und die deutsche Fahne gleich mit. Um damit fröhlich ausgelassene Multi-Kulti-Parties anzuzetteln. Zum Beispiel auf dem Römerberg, dem angesagtesten Nationentreff in Frankfurt, dem die spontanen Techno- und House-Partys vor der Pizzeria Salvatore an der Alten Brücke in keinster Weise nachstanden.

Aber nicht nur die No-Go-Areas waren verwaist, auch in den Go-Go-Areas herrschte während der WM tote Hose. Obwohl der Eingang zum Sudfass nun ja denkbar verkehrsgünstig im Frankfurter Fußball-Bermudadreieck lag. Erinnert sich überhaupt noch jemand an die Medien-Quickies dieses Sommers? Das Eheleben des Bullen von Tölz zum Beispiel, der sich ne Runde am Nasenring durch die Medien-Manege führen ließ? Was, schon vergessen? Und wer hat mitbekommen, dass die Bundesregierung während der WM ein elektronisches Geschäftsverkehrvereinheitlichkeitsgesetz verabschiedet hat. Ja? Bravo! Mit solch einem Insider-Wissen wird man heutzutage im Fernsehen Millionär. Wissen Sie auch, worum es sich bei Supersauerstoffblut handelt? Um einen Reformbestandteil der Gesundheitsreform? Nein, das ist leider falsch, aber irgendwie auch nicht mehr so wichtig, außer vielleicht für Jan Ullrich. Das Schönste an der WM war, dass die üblichen Aufgeregtheiten ausgeblendet wurden und man sich in der MainArena völlig entspannt dem Public Viewing, der Anheuser-Plörre und frisch gegrillten Bratwürsten hingeben konnte.

500.000 Besucher waren übrigens im Vorfeld für die MainArena avisiert worden, zwei Millionen Menschen sind es am Ende geworden. Sie alle haben das Public Viewing zum absoluten Renner in Frankfurt gemacht. Geöffnet war die MainArena täglich. Und geschlossen meist sehr schnell. In der Regel wegen Überfüllung. Und nur einmal wegen Unwetter.

Zum Abkühlen ging´s im Anschluss an die Spiele für die meisten dann nach Alt-Sachsenhausen, der Bembel-Hochburg in unserer Main-Metropole. 

Knapp 400 Fans, meist Engländer, wählten übrigens den kürzesten Weg nach Sachsenhausen - quer durch den Fluss. Was die Frage aufwarf: Kraulen die nach Hause auch durch den Kanal? Solche Aktionen nötigten die DLRG und die hessische Wasserschutzpolizei mit ihrer Hochleistungsflotte "Hessen 1 bis 6", die Brückenspringer vor dem trotz WM weiterlaufenden Schiffsverkehr schnellstmöglich wieder rauszufischen und für ein Beförderungsentgelt von 50 Euro dann exklusiv in Sachsenhausen abzusetzen. Frankfurt ist halt service-orientiert, da konnten die Gäste echt nicht meckern.

Und all die Engländer, denen der Main zu tief oder zu nass war bzw. zu wenig nach Bier schmeckte, frönten nach dem Spiel gegen Paraguay dem kollektiven Badespaß im Gerechtigkeitsbrunnen auf dem Frankfurter Römerberg.



Mittelpunkt der MainArena war ein LED, das mit 144 Quadratmetern als "der" Superschirm weltweit gepriesen wurde. Und für 700.000 Euro Miete für vier Wochen im Prinzip ein Schnäppchen war. Wenn kein Fußballspiel über die Videowand flimmerte, wurde der Screen vom Hessischen Rundfunk bespaßt. Irgendwie beruhigend, mal live zu sehen, dass die Jungs, von denen man seit 20 Jahren die immer gleiche sonore Radiostimme kennt, auch älter geworden sind. Und dass sie genauso begeistert Couch und Potato-Chips gegen Mikrophon und Fähnchen eingetauscht haben.

Überhaupt, was prasselte bei dieser Fußball WM – außer Public Viewing  nicht alles an neuen Film- und Video-Formaten auf uns ein? Fernsehen "on-demand" (ist leider für Life-Übertragungen ungeeignet) war en Vogue. Handy- oder Taschenfernsehen ("darf ich mal kucken, wie viele Pixel Ihr Ball hat?") war laut Werbung total am boomen. Doch das Allerbeste an neuen Technologien und Formaten war das sagenhafte Überallfernsehen DVB-T, das "ich jubel über ein Tor lieber sechs Sekunden später als die Nachbarschaft, weil ich so die Vorfreude länger genießen kann" quasi zum Kult erhoben hat. DVB-T hat die Zeitverzögerung vermutlich von Angela Merkel abgekuckt. Die brauchte vorm Klatschen auch immer nen Seitenblick auf Theo Zwanziger oder Franz Beckenbauer, um zu begreifen, dass wirklich ein Tor gefallen war.

Die einzigen "Anschläge" auf die MainArena verursachten übrigens nicht vielfach gefürchtete Terroristen, sondern zwei Binnenschiffer. Einmal schrammte ein Containerschiff aus Holland kurz nach Mitternacht den linken (!!!) Pfosten der Videowand (Junge, das wär´ spätestens an der nächsten Brücke richtig eng geworden), das zweite Mal ramponierte ein deutscher Schubverband den Ponton zum Ausgleich flussabwärts auf der rechten Seite. "Kein Racheakt" versicherte der holländische Kapitän peinlichst berührt, als er wegen "Schiffsflucht" kurz vor Griesheim von den Freunden der hessischen Wasserschutzpolizei gestoppt wurde.

Sind wir mal ehrlich, nachts ist ne abgedunkelte Videowand zwischen Ignatz-Bubis- und Alte Brücke nicht wirklich gut erkennbar. Und 172 Meter Schubverband sind schon für normale Manöver auf dem Main ne Menge Schiff. Also waren wir nach dem Bagatellschaden nicht kleinlich, noch dazu als die Statiker mittags grünes Licht fürs Public Viewing signalisierten. Dass die deutschen Fans den ersten Vorfall musikalisch mit " … ohne Holland, fahr´n wir nach Berlin …" aufarbeiteten, war dann aber Ehrensache.

Überhaupt, die Fans, sie machten die WM in Frankfurt für jedes Team zum echten Heimspiel. Das hat einer der WM-Sponsoren völlig richtig erkannt. Im Gegensatz zu einem amerikanischen Bierhersteller, der via FIFA dafür sorgte, dass im Frankfurter Waldstadion kein Apfelwein ausgeschenkt werden durfte. Sorry, so macht man sich in Hessen leider keine Freunde fürs Leben. Das war ein klassisches Eigentor. Da können die Amerikaner übrigens noch so viele Studien auf den Markt werfen, dass Bier vor Prostatakrebs schützt. Mit dieser amerikanischen Brause wird kein deutscher Fußballfan vorbeugen. Sieben bis acht Liter Bier täglich verhindert Tumore. War mir schon klar, dass die meisten Männer ihre Bierplautze schlicht aus gesundheitlichen Gründen in Kauf nehmen. Aber falls das Berliner Gesundheitsministerium Freiwillige für eine längerfristig angelegte Studie rekrutieren sollte, findet Ulla Schmidt sicher 100prozentig einen Sponsor unter den deutschen Bierbrauern.

Überhaupt. Amerika, Du Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Mit dem Ausscheiden Brasiliens gegen die Alt-Herrenmannschaft der Franzosen war die Weltmeisterschaft schlagartig eine europäische Angelegenheit. Und der Begriff des "Old Europe" bekam eine ganz neue Bedeutung. An dieser Stelle mal unbekannterweise Grüße an Mr. Rumsfeld. Wenn die USA irgendwann ernsthaft Fußball-Weltmeister werden will, dann sollten sie einfach Jürgen Klinsmann engagieren, der wohnt ja quasi um die Ecke.

Und was ist schon "Summer in the City", wenn man vier Wochen lang "Sommer in Mainhatten" genießen konnte? Nach der großen Finalnacht wurde die Frankfurter MainArena übrigens ganz offiziell zum schönsten Fan-Fest Deutschlands gekürt. Pelé überreichte den Vertretern der Tourismus GmbH, die sich diesen Preis absolut verdient hatten, den kristallenen "Home of Football Fever Pokal". Hatte MasterCard fürs schönste Jubeln gesponsert. Und Schwamm drüber, dass "Football" nicht das gleiche ist wie "Soccer", da sind wir jetzt nicht kleinlich und stellen die Trophäe voller Stolz zu den anderen Pokalen in den Römer.

Doch zurück zu den Fans. Wie man mannhaft binnen kürzester Zeit Straßenzug um Straßenzug im Sachsenhäuser Apfelwein-Eldorado leer trinken kann, demonstrierten uns die Engländer recht eindrucksvoll am ersten WM-Wochenende. Die rückten einfach mit 65.000 Fans in Frankfurt ein, dekorierten en passant das Waldstadion mit weiß-roten Fahnen für ihr Heimspiel gegen Paraguay und zeigten der FIFA, dass der Schwarzmarkt trotz RFID astrein funktionierte. Wahrscheinlich hat sich das halbe Königreich ruiniert, um Beckham & Co in Deutschland spielen zu sehen. Für diese Performance ist den britischen Fans auch ihr Grotten-Kick auf dem Römerberg verziehen. Und wie einfach es ist, mit einem Ball tausend erwachsene Männer zu beschäftigen, demonstrierten eindrucksvoll die Kommunikatoren der hessischen Polizei. Die an dieser Stelle auch mal explizit gelobt werden müssen, echt guten Job gemacht! Auch wenn es die Stadt Frankfurt ein paar Euronen gekostet hat, die zu Bruch gegangenen Scheiben am Kaisersaal quasi über Nacht wieder auszuwechseln. Als sich die südkoreanische Ministerpräsidentin Han Myeong-sook drei Tage später ins Goldene Buch der Stadt Frankfurt eintrug, war Frankfurts "Gut Stubb" wieder picobello. Und Schwamm drüber, dass einige Briten in voller Montur im Gerechtigkeitsbrunnen baden gingen. Die wollten sicher taktvoll vermeiden, dass Justitia das ganze Elend sieht. Und wenn die Jungs von der Insel jetzt noch das Schwert, dass sich einige nach der Party von der Frankfurter "Princess of Justice" zur Erinnerung an die tollen Tage in unserer Stadt ausgeliehen haben, zurückbringen könnten, wäre das voll nett.

Die Franzosen waren, muss Frau jetzt mal einfach so sagen, einen Tick charmanter als die stimmgewaltigen Jungs von der Insel. Trotz Zidane und der unschönen Aktion im Finale. Aus Allez-les-Bleus haben sie Allez-les-Vieux gemacht und sich mit der Marseilleise voller Hingabe in die Herzen der Fans gesungen. 

Im Vergleich dazu war die Seleção völlig überbewertet und eine einzige Enttäuschung. Sorry, ihr habt die vielen, absolut treuen Fans wirklich nicht verdient. Auf was wollten die hoch dotierten brasilianischen Starkicker eigentlich noch warten? Fußball ist doch kein Beamtenmikado, sondern hat was mit Ballfeeling und Bewegung zu tun. 

Als die schwedische A-Klasse ihren Elchtest gegen Deutschland verlor, erscholl ein vielstimmiges "Ihr seid nur ein Möbellieferant, Möbellieferant, Möbellieferant…" über den Main. Gefolgt von "Wir dreh´n Euch die Schrauben aus dem Schrank, Schrauben aus dem Schrank, Schrauben aus dem Schrank…" Doch die zahlenmäßig deutlich unterlegenen Schweden nahmen das Ergebnis gelassen und feierten nach Abpfiff des Achtelfinalspiels in der MainArena einfach weiter mit. Dass die deutschen Fans danach kollektiv "Fi-naa-le, oho, Fi-naa-le, oho …" und "Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin" anstimmten, war ja wohl klar.

Der Charme des Fan-Festes resultierte übrigens auch aus der Teilnahme von Mannschaften wie Togo, Trinidad und Tobago oder Angola (mh, wofür braucht man in Afrika bei 40 Grad im Schatten eigentlich die vielen fett gestrickten Fanschals?), Costa Rica oder Saudi Arabien (gibt es da Frauenfußball? Und wenn ja, verheddern die sich beim Kicken nicht im Tschador?). Mit 207 Mitgliedsverbänden verzeichnet die FIFA nur unwesentlich mehr Nationen als die Stadt Frankfurt im städtischen Melderegister. Was den Vorteil hatte, dass sich das gesamte internationale Potenzial jeden Tag aufs Neue in der MainArena identitätsstiftend verbrüderte und verschwesterte und fröhlich Sieger und Verlierer feierte.

Einen Spieler werd´ ich übrigens ein bisschen vermissen. Die Socceroos mit Harry Kewell, der voll ne Sahneschnitte ist. So einen Titel bekommt Mann nur von weiblichen Websozi-Amazöninnen verliehen und ist ein echter Ehrenpreis. Kewell war 1999, 2001 und 2003 Ozeaniens "Fußballer des Jahres" und musste leider wegen Verletzung pausieren, als Australien gegen die Azzuri sieben Sekunden vor dem Abpfiff unglücklich mit 0:1 ausschied.

Auch die Jungs und Mädels aus dem Togo grämten sich über das 2:1 von Süd-Korea net lang, sondern starteten noch im Waldstadion - das mal Commerzbank Arena und mal Deutsche Bank Park heißt, aber während der WM so net heißen durfte - ne heftige Trommel-Party, quasi zur Einstimmung auf 2010. Und 1 und 2 und 3 und 54, 74, 90, 2010 ... ja so stimmen wir alle ein. ... Mit dem Herz in der Hand und der Leidenschaft im Bein, werden wir Weltmeister sein.

Immerhin saß in Frankfurt nicht nur der zurückgetretene Trainer Otto Pfister wieder auf der Bank, sondern auch Bachirou Salou, Ex Eintracht-Stürmer und Teammanager der Nationalmannschaft von Togo, als Zuschauer, direkt vor uns im Block 33.

Doch gegen die lautstarke Übermacht der Südkoreaner auf den Rängen, die das "Dae Han Min Guk"– was sowas wie "Korea ist groß" bedeutet - mit vollem Einsatz skandierten, hatte Togo spielerisch und akustisch nicht wirklich ne Chance. Auch wenn die deutschen Fans die Schlachtrufe der Asiaten mit "Jür-Gen-Klins-Mann" konterten. Allerdings haben die Koreaner einen nicht wieder gut zu machenden Fehler auf der Frankfurter Sympathie-Skala gemacht. Wie kann denn der holländische Trainer Dick Advocaat die Südkoreaner ohne Du-Ri Cha im Waldstadion auflaufen lassen? Der wär´ doch abgegangen wie ein Zäpfchen, da waren sich in unserem Fanblock alle Frankfurter einig. Ein einziges Heimspiel wär´ das für die Roten vom Hangang geworden. Aber nein, selbst schuld, so haben sich viele viele Frankfurter und Hessen als bekennende Eintracht-Fans spontan auf die Seite von Togo geschlagen und die Jungs aus Afrika unterstützt.

Ziehen wir jetzt mal so langsam WM-Bilanz von 2006. Was braucht man für ein zünftiges Fan Fest zu Gast bei Freunden? Richtig. Gäste natürlich. Und Freunde! So jemand wie Jürgen, der mit einem die Fußball-Leidenschaft teilt und dafür heldenhaft SPD-Termine ohne schlechtes Gewissen schwänzt.

Oder Marion, die Mann und Kind ins Auto verfrachtete, um unter 80.000 Fans am Main zufällig die Nachbarin aus der Pfalz zu treffen.

Außerdem ne passende Ausstattung. Das Mindeste ist ne Nationalfahne, oder am besten gleich mehrere (echte Sparbrötchen hatten das Winke-Winke-Modell vom Auto mitgebracht), ein Fan-Trikot Modell "schwarz und weiß, wir steh´n an Eurer Seite", Hula-Hula-Ketten, gegelte Irokesenfrisur zum Aufstecken, Wikingerhelm, Schlapphut oder Afro-Perücke und natürlich auch den obligatorischen Fan-Schal: Und ne Trillerpfeife, um die Aktionen der Schiedsrichter standesgemäß zu kommentieren. Und weibliche Fans, die signalisieren wollten, dass sie nicht nur Spielberichte sondern auch Bilder von der neusten Shopping-Tour von Victoria Beckham in den einschlägigen Hochglanzmagazinen verfolgt hatten, trugen "die" Sonnenbrille, für die  Puck, die Stubenfliege aus der Biene Maja Modell gestanden hat. Oben ohne ging 2006 einfach gar nicht.

Wichtig war auch das passende Make-up. Immer wieder gern genommen wurde die Ganzkörperbemalung. Da kam richtig Freude auf, wenn man im Überschwang der Gefühle von der farbenfrohen Nachbarschaft im Torrausch feste gedrückt wurde.

Nicht zu vergessen Flüssigkeiten, auch alkoholische, um kurzfristig auftretende Dürreperioden ohne größere Entzugserscheinungen zu überstehen.


Zum Abschluss ein kleiner Exkurs über eines der letzten Geheimnisse dieser Fußball-WM. Das Elfmeterschießen. Die Schweizer in der MainArena wollten einfach nicht glauben, dass ihr Team gleich drei Elfer übers Tor der Ukraine genagelt hatte. Verstanden wir auch nicht so ganz, denn mit dem in der Schweiz geborenen Neuville hat die deutsche Mannschaft zumindest einen recht erfolgreichen Elfmeterschützen aus den Alpen importiert. Aber vielleicht wollten sich die Schweizer das Beste einfach bis zum Schluss aufheben und zeigen uns ihre Ballkünste bei der Europameisterschaft 2008?

Doch auch die Engländer verzweifelten am Eckigen, wo das Runde partout nicht rein wollte. Das hatten sie ausnahmsweise mit den Argentiniern gemeinsam, die gegen Deutschland und den unbezwingbaren Lehmann ihre Träume vom Endspiel begraben mussten.


Die beliebteste Fan-Hymne dieser WM war "54, 74, 90, 2006" der Sportfreunde Stiller. Laut Masterplan hätte Deutschland wieder Weltmeister werden müssen, zumindest theoretisch wie zum Beispiel die

  • Mathematische Theorie: Die Deutschland-Weltmeister-Formel
  • Deutschland wurde bereits dreimal Weltmeister: 1954, 1974 und 1990! Bestückt man die Deutschland-Weltmeister-Formel a x b - c = d damit, ergibt dies das Jahr, in dem Deutschland wieder das Finale gewinnt. Also: 54 x 74 - 1990 = 2006. Eindeutiges Ergebnis!
  • Statistische Theorie: Der Heimsieg
  • Bisher hat die DFB-Elf jede WM gewonnen, die im eigenen Land ausgetragen wird. Also auch dieses Jahr!
  • Beckenbauer-Klinsmann-Trainer-Theorie
  • 1974 wurde Franz Beckenbauer als Spieler Weltmeister, 16 Jahre später als Trainer. 1990 wurde Klinsmann als Spieler Weltmeister, 16 Jahre später, also 2006, auch als Trainer.
  • Brehme-Ballack-Kapitäns-Theorie
  • 1986 sorgte Mannschafts-Kapitän Brehme mit einem Freistoß für die 1:0-Führung im Halbfinale gegen Frankreich und schoss vier Jahre danach das Tor zum WM-Titel. 2002 schoss Ballack im Halbfinale ebenfalls das 1:0 gegen Südkorea und wird vier Jahre später, also 2006, den Treffer zum Sieg machen.
  • Bären-Glücksbringer-Theorie:
  • 1954 gewann Deutschland die WM zum ersten Mal. In Bern. Das Wappentier der Stadt Bern ist der Bär. Außerdem wird der Bär oft zusammen mit dem Heiligen Korbinian dargestellt, der einen Bären zähmte und ihn dazu brachte, sein Gepäck bis nach Rom zu tragen. Und siehe da: 1990 gewann Deutschland die WM in Rom. 2006, pünktlich zur WM, taucht plötzlich wieder ein Bär auf. Ein wilder Problembär namens Bruno, auch "JJ1" genannt. Immer wieder wurde er in den Wäldern Bayerns gesichtet, nicht weit entfernt von München, wo das Eröffnungsspiel 4:2 von Deutschland gewonnen wurde. Berlin, die Stadt, in der das Endspiel stattfinden wird, trägt ebenfalls den Bären im Wappen! Gut für Deutschland, denn der Bär bringt uns Glück!

Doch nachdem der bayrische Umweltminister "Schnappt-ihn-Euch" den armen Bruno als sogenannten Risikobären zum Abschuss freigegeben hatte, verließ die Deutschen das WM-Glück. Schluss war mit zu Gast bei Freunden für Problembären.

Ach, wie gerne hätten wir den Gazzaniga-Pokal der FIFA in den Händen des deutschen Teams gesehen? Franz Beckenbauer hat den Pokal übrigens als erster Mannschaftskapitän 1974 im Münchner Olympiastadion in die Luft gestemmt, nachdem die deutsche Nationalmannschaft mit einem 2:1 über die Niederlande Weltmeister geworden war. ... Doch es kam der 4. Juli und das Halbfinalspiel gegen Italien. Was fieberten wir vor der Weseler Werft oder im Waldstadion unter dem Videowürfel. Wir jubelten, wir feuerten das deutsche Team an, wir hofften und beteten. Aber es sollte leider nicht sein.

Keine Theorie, keine Sportfreunde, kein Grönemeyer, der vielleicht noch Zeit gefunden hätte, was zu dreh´n. Am Ende stand es 2:0 für Italien. Und, sind wir mal ehrlich, die Jungs mit den durchgeschwitzten blau-goldenen Leibchen (aus Italien kommen einfach gute Modedesigner) waren an diesem Abend einen Tick besser als unsere Nationalmannschaft. Kein Tor für Deutschland. "Nur" das kleine Endspiel gegen Portugal am 8. Juli in Stuttgart. Was übrigens ein fantastisches Spiel wurde und die Deutschen endgültig mit ihrer Mannschaft und dem Klinsi versöhnte.

Jetzt gilt es Abschied nehmen vom "Sommer unseres Lebens". Goleo, ich werde Dich vermissen. Im letzten Hemd biste angetreten, ohne Hose, mit Deinem Freund Pille an der Hand. Du bist mir während der WM 2006 wie viele andere ans Herz gewachsen. Ciao, schnief, schluchz, ich hoff´, wir sehen uns alle 2010 in Südafrika wieder.

Nachtrag: Übrigens fast zwei Millionen Menschen haben die Frankfurter FanArena besucht. Und nur ganz wenigen in Deutschland ging die "Bembel-City" in diesen wunderbaren Tagen wirklich am Popo vorbei.