Himmel über Schlesien

Sonnenuntergang über Schloss Fürstenstein

Himmel über Schlesien 

von Petra Tursky-Hartmann - Bildbearbeitung Saskia Wiese

„Du fährst nach Polen? In den Urlaub???“ „Hm, ja … meine Oma ist doch vor einem Jahr gestorben, … und da dachte ich, also wollte ich, ähm ja, mal nachschauen, wo sie geboren ist …“ Es klang nicht wirklich überzeugt, mehr defensiv, wenn ich in den vergangenen Monaten Freunden von meinen Ferienplänen erzählt hatte. Darf man heute wieder „Schlesien“ sagen? Oder katapultiert man sich mit dem Wort nicht unweigerlich in eine Ecke, in der man sich niemals verorten würde? Klingt vielleicht seltsam, aber ich hatte diesen Sommer mit meiner Reise auch „etwas zu erledigen“. Was sich beim besten Willen nicht mehr aufschieben ließ.   

Alles hatte im Mai 2012 mit der Gestaltung der Traueranzeige meiner verstorbenen Großmutter begonnen. Nun ja, eine Todesanzeige ist nicht wirklich der Anfang, sondern im Prinzip eher das Ende einer Reise. Aber da sie auf eine protestantisch geprägte Ordnung in ihrem Leben – ein Leben, das die Zeitläufte des Zweiten Weltkriegs kreuz und quer durch Deutschland geführt hatte – bestanden hatte, fühlte ich mich irgendwie verpflichtet, eine ihrem Leben würdig formulierte Anzeige zu schalten. Mit dem Nachsatz, dass wir sie gerne auf ihrem letzten Weg begleitet hätten. Aber das ist eine andere Geschichte. Mit einer Mischung aus „Chronistenpflicht“ oder „Ablenkung durch Beschäftigung“ wollte ich die aufkeimende Trauer eingrenzen und hoffte, mit diesem „Verwaltungsakt“ meinen familiären Verpflichtungen in gebotenem Maße nachgekommen zu sein. Dachte ich.

Kurhalle in Bad Salzbrunn

„1919“, erinnerte sich Onkel Werner, „die Wally ist 1919 in Weißstein geboren, noch vor dem Umzug nach Bad Salzbrunn“, als wir wegen der Umstände ihrer Beerdigung telefonierten. Er ist der jüngste Bruder meiner Oma und eigentlich der Onkel meines Vaters. Aber da er nur unwesentlich älter als mein Vater ist, wurde er immer als „Onkel“ bezeichnet. Er war also in Bad Salzbrunn geboren worden. „Am selben Ort wie Gerhart Hauptmann“, ergänzte er nicht ohne Stolz. Und setzte voraus, dass ich natürlich weiß, wo der deutsche Dramatiker und Schriftsteller, der 1912 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, gelebt hat. Als sechstes von sieben Kindern ist der Onkel 1934 in der Bahnhofsstraße 8, direkt neben der Post, im Hinterhaus im Garten geboren. Hinter der wunderschönen Backsteinvilla, wo „der Vater in der schlechten Zeit bis zu sechzig Kaninchen“ aufgezogen hat. Wobei das Schicksal der flauschigen Langohren sonntags als Braten zu Rotkraut mit Knödeln besiegelt wurde.

Die Zechentürme "Julia" und "Sobotka" in Waldenburg

Das war damals eine willkommene Ergänzung der trotz „Hamsterfahrten“ immer karger werdenden Tafel der Großfamilie gegen Ende der Dreißigerjahre. Denn „das Geld reichte hinten und vorne nicht“, bedauerte er in seinen Erinnerungen, obwohl mein Urgroßvater als Bergmann nahezu ausschließlich Nachtschichten auf „Louise Charlotte“ für die „Consolidirte Fuchsgruppe“ in Waldenburg schob. Als Kind hatte ich mächtig Respekt vor dem alten, hochgewachsenen, aber insgesamt bedächtig wirkenden Mann gehabt. Alle in der Familie waren irgendwie stolz auf ihn. Wer mehr als dreißig Jahre seines Lebens unter Tage unbeschadet überstanden hat, hat eben auch ein bisschen Glück gehabt. Mit „Glück auf“ hat übrigens mein späterer Chef Franz Müntefering gegrüßt. Das Glück, das er meinte, kannte ich.

Marktplatz von Waldenburg

Wałbrzych (das ehemalige Waldenburg) liegt etwa fünfundsechzig Kilometer südwestlich von Breslau (Wrocław) und war bis in die Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts das Zentrum des niederschlesischen Steinkohlereviers. Meine Großmutter hatte immer, wenn zum Beispiel Geburtstage anstanden, über die Anreise der weitverstreuten „Mischpoke“ ausschweifend lamentiert. Und sich trotzdem riesig gefreut. Aber Weißstein bzw. Biały Kamień, wie der Ort heute heißt, sollte wo um Himmels willen liegen? „Weißstein ist ein Stadtteil der Großstadt Wałbrzych in der Woiwodschaft Niederschlesien in Polen“, erklärte mir Google. Und Wikipedia ergänzte: „Die deutsche Bevölkerung wurde, soweit sie nicht schon vorher geflüchtet war, zum größten Teil vertrieben. Die neuen Bewohner waren zum Teil Heimatvertriebene aus Ostpolen.“

Fabrik am Bahnhof von Waldenburg

Vertrieben. Ein hässliches Wort, das mich unwillkürlich zusammenzucken ließ. Weil es so penetrant nach „Frau Steinbach von der CDU“ klingt. Eine Frau, für deren Auftritte ich mich als Deutsche leider immer wieder fremdschämen muss. Vergiss es, dachte ich und schloss den Browser. Bei aller Liebe für die Oma, hier ist Schicht im Schacht. Mit so einem reaktionären Zeug wollte ich nichts zu schaffen haben. Wobei meine Oma das Wort „vertrieben“ meiner Erinnerung nach gar nicht verwendet hatte. Es existierte einfach nicht in ihrem Sprachschatz, zumindest nicht gegenüber uns Enkeln oder ihren Urenkeln. Das Gleiche gilt rückblickend für meinen Stiefgroßvater Theo, der als Kriegsversehrter mit einem Holzbein von der Ostfront zurückgekehrt war. Er hatte sich in der noch jungen Bundesrepublik für den VdK engagiert. Und für die Sozialdemokratie. In Rheinland-Pfalz, wo damals traditionell CDU gewählt wurde. Beide verehrten Willy Brandt und „den Onkel“. Womit sie damit nicht den kleinen Bruder meiner Oma, sondern Herbert Wehner meinten. Der damalige Bundeskanzler mit seinem Kniefall in Warschau war die Ikone in unserem provinziellen Familienkosmos. Und rangierte noch weit vor der umfangreichen Sammeltassensammlung und den handgeschnitzten Engelsfiguren aus dem Erzgebirge, die meiner Oma in der Glasvitrine ihres Wohnzimmerschranks absolut heilig waren.

Die stillgelegte Zeche "Julia" der "Consolidirte Fuchsgruppe"

Nachdenklich hatte ich damals den Computer ausgeschaltet und versucht, die Vergangenheit aus meinem Kopf zu vertreiben. Dann rief der Onkel wieder an. Und bedankte sich überschwänglich für die hübsche Todesanzeige. „Die hätte der Wally gut gefallen“, äußerte er im Brustton der Überzeugung. Und ergänzte dann ungefragt: „Ohne deine Oma wären wir damals nicht in den Zug gekommen.“ Damals. Damals, das war diese Geschichte vom Februar 1945, die meine Oma beiläufig erzählt hatte, als sie einen ausgesetzten Spitz von der Straße mit nach Hause brachte und ihn „Lumpi“ taufte. Natürlich mussten für „Lumpi“ umgehend ein Halsband und eine Leine gekauft werden. Und dann sagte sie so en passant, damals, auf dem Bahnsteig in Prag, habe sie meinen Vater aus Angst, dass sie ihn zwischen Tausenden von Flüchtlingen und permanenten Bombenangriffen verliert, auch angeleint. Ich murmelte ein „das mit dem Zug hat die Oma mal erzählt“ in die Muschel. Von dem Moment an war ich mit dem Verdrängen der Geschichte so erfolgreich wie mit dem Ignorieren von Zahnschmerzen. Oder dem Abstreiten von Wehen. Um es kurz zu machen, es war ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. „Es ist so schön dort“, hatte der Onkel zum Abschied am Telefon geschwärmt. „Fahr doch mal hin, das hätt‘ die Wally sicher gefreut!“

Bahnhofstrasse 8, Bad Salzbrunn

„Du hast da absolut nix verloren“, sagte mein Kopf. „Wir könnten doch mal unverbindlich bei Google Street View gucken, wie es dort aussieht“, argumentierte eine innere Stimme dagegen. Der amerikanische Technologieriese hatte richtig gute Vorarbeit geleistet, indem er 2012 weite Teile Polens virtuell fürs Internet annektiert, also abfotografiert hat. Mit gemischten Gefühlen brach ich an einem Ostersamstag im April 2013 zur ersten digitalen Erkundungsfahrt in die Heimat meiner Oma auf.

Falls es Sie interessiert, wie diese Reise weiterging, können Sie gerne mein Buch "Zur besonderen Verwendung" bestellen (gedruckt als Paperback oder als E-Book)



Petra Tursky-Hartmann: Zur besonderen Verwendung
Eine Reise in die Vergangenheit meiner Familie
Paperback, 246 Seiten
ISBN-13: 9783756818334
Verlag: Books on Demand
Erscheinungsdatum: 10.01.2023
Sprache: Deutsch
Farbe: Ja
erhältlich als:
Buch: 24,99 €
eBook: 7,99 €

Vielen Dank für Ihr Interesse