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Sonnenuntergang über Schloss Fürstenstein |
Himmel
über Schlesien
von Petra Tursky-Hartmann - Bildbearbeitung Saskia Wiese
„Du fährst nach Polen?
In den Urlaub???“ „Hm, ja … meine Oma ist doch vor einem Jahr gestorben, …
und da dachte ich, also wollte ich, ähm ja, mal nachschauen, wo sie geboren ist
…“ Es klang nicht wirklich überzeugt, mehr defensiv, wenn ich in den
vergangenen Monaten Freunden von meinen Ferienplänen erzählt hatte. Darf man
heute wieder „Schlesien“ sagen? Oder katapultiert man sich mit dem Wort nicht
unweigerlich in eine Ecke, in der man sich niemals verorten würde? Klingt
vielleicht seltsam, aber ich hatte diesen Sommer mit meiner Reise auch „etwas
zu erledigen“. Was sich beim besten Willen nicht mehr aufschieben ließ.
Alles hatte im Mai 2012
mit der Gestaltung der Traueranzeige meiner verstorbenen Großmutter begonnen.
Nun ja, eine Todesanzeige ist nicht wirklich der Anfang, sondern im Prinzip
eher das Ende einer Reise. Aber da sie auf eine protestantisch geprägte Ordnung
in ihrem Leben – ein Leben, das die Zeitläufte des Zweiten Weltkriegs kreuz und
quer durch Deutschland geführt hatte – bestanden hatte, fühlte ich mich
irgendwie verpflichtet, eine ihrem Leben würdig formulierte Anzeige zu
schalten. Mit dem Nachsatz, dass wir sie gerne auf ihrem letzten Weg begleitet
hätten. Aber das ist eine andere Geschichte. Mit einer Mischung aus
„Chronistenpflicht“ oder „Ablenkung durch Beschäftigung“ wollte ich die
aufkeimende Trauer eingrenzen und hoffte, mit diesem „Verwaltungsakt“ meinen
familiären Verpflichtungen in gebotenem Maße nachgekommen zu sein. Dachte ich.
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Kurhalle in Bad Salzbrunn
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„1919“, erinnerte sich
Onkel Werner, „die Wally ist 1919 in Weißstein geboren, noch vor dem Umzug nach
Bad Salzbrunn“, als wir wegen der Umstände ihrer Beerdigung telefonierten. Er
ist der jüngste Bruder meiner Oma und eigentlich der Onkel meines Vaters. Aber
da er nur unwesentlich älter als mein Vater ist, wurde er immer als „Onkel“
bezeichnet. Er war also in Bad Salzbrunn geboren worden. „Am selben Ort wie
Gerhart Hauptmann“, ergänzte er nicht ohne Stolz. Und setzte voraus, dass ich
natürlich weiß, wo der deutsche Dramatiker und Schriftsteller, der 1912 den
Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, gelebt hat. Als sechstes von sieben
Kindern ist der Onkel 1934 in der Bahnhofsstraße 8, direkt neben der Post, im
Hinterhaus im Garten geboren. Hinter der wunderschönen Backsteinvilla, wo „der
Vater in der schlechten Zeit bis zu sechzig Kaninchen“ aufgezogen hat. Wobei
das Schicksal der flauschigen Langohren sonntags als Braten zu Rotkraut mit
Knödeln besiegelt wurde.
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Die Zechentürme "Julia" und "Sobotka" in Waldenburg
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Das war damals eine
willkommene Ergänzung der trotz „Hamsterfahrten“ immer karger werdenden Tafel
der Großfamilie gegen Ende der Dreißigerjahre. Denn „das Geld reichte hinten
und vorne nicht“, bedauerte er in seinen Erinnerungen, obwohl mein Urgroßvater
als Bergmann nahezu ausschließlich Nachtschichten auf „Louise Charlotte“ für
die „Consolidirte Fuchsgruppe“ in Waldenburg schob. Als Kind hatte ich mächtig
Respekt vor dem alten, hochgewachsenen, aber insgesamt bedächtig wirkenden Mann
gehabt. Alle in der Familie waren irgendwie stolz auf ihn. Wer mehr als dreißig
Jahre seines Lebens unter Tage unbeschadet überstanden hat, hat eben auch ein
bisschen Glück gehabt. Mit „Glück auf“ hat übrigens mein späterer Chef Franz Müntefering
gegrüßt. Das Glück, das er meinte, kannte ich.
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Marktplatz von Waldenburg
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Wałbrzych (das ehemalige Waldenburg) liegt etwa fünfundsechzig
Kilometer südwestlich von Breslau (Wrocław) und
war bis in die Neunzigerjahre des vergangenen Jahrhunderts das Zentrum des
niederschlesischen Steinkohlereviers. Meine Großmutter hatte immer, wenn zum
Beispiel Geburtstage anstanden, über die Anreise der weitverstreuten
„Mischpoke“ ausschweifend lamentiert. Und sich trotzdem riesig gefreut. Aber
Weißstein bzw. Biały Kamień, wie der Ort heute heißt, sollte wo um Himmels willen
liegen? „Weißstein ist ein Stadtteil der Großstadt Wałbrzych in der Woiwodschaft
Niederschlesien in Polen“, erklärte mir Google. Und Wikipedia ergänzte: „Die
deutsche Bevölkerung wurde, soweit sie nicht schon vorher geflüchtet war, zum
größten Teil vertrieben. Die neuen Bewohner waren zum Teil Heimatvertriebene
aus Ostpolen.“
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Fabrik am Bahnhof von Waldenburg
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Vertrieben. Ein
hässliches Wort, das mich unwillkürlich zusammenzucken ließ. Weil es so
penetrant nach „Frau Steinbach von der CDU“ klingt. Eine Frau, für deren
Auftritte ich mich als Deutsche leider immer wieder fremdschämen muss. Vergiss
es, dachte ich und schloss den Browser. Bei aller Liebe für die Oma, hier ist
Schicht im Schacht. Mit so einem reaktionären Zeug wollte ich nichts zu
schaffen haben. Wobei meine Oma das Wort „vertrieben“ meiner Erinnerung nach
gar nicht verwendet hatte. Es existierte einfach nicht in ihrem Sprachschatz,
zumindest nicht gegenüber uns Enkeln oder ihren Urenkeln. Das Gleiche gilt
rückblickend für meinen Stiefgroßvater Theo, der als Kriegsversehrter mit einem
Holzbein von der Ostfront zurückgekehrt war. Er hatte sich in der noch jungen
Bundesrepublik für den VdK engagiert. Und für die Sozialdemokratie. In
Rheinland-Pfalz, wo damals traditionell CDU gewählt wurde. Beide verehrten
Willy Brandt und „den Onkel“. Womit sie damit nicht den kleinen Bruder meiner
Oma, sondern Herbert Wehner meinten. Der damalige Bundeskanzler mit seinem
Kniefall in Warschau war die Ikone in unserem provinziellen Familienkosmos. Und
rangierte noch weit vor der umfangreichen Sammeltassensammlung und den
handgeschnitzten Engelsfiguren aus dem Erzgebirge, die meiner Oma in der
Glasvitrine ihres Wohnzimmerschranks absolut heilig waren.
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Die stillgelegte Zeche "Julia" der "Consolidirte Fuchsgruppe" |
Nachdenklich hatte ich
damals den Computer ausgeschaltet und versucht, die Vergangenheit aus meinem
Kopf zu vertreiben. Dann rief der Onkel wieder an. Und bedankte sich überschwänglich
für die hübsche Todesanzeige. „Die hätte der Wally gut gefallen“, äußerte er im
Brustton der Überzeugung. Und ergänzte dann ungefragt: „Ohne deine Oma wären
wir damals nicht in den Zug gekommen.“ Damals. Damals, das war diese Geschichte
vom Februar 1945, die meine Oma beiläufig erzählt hatte, als sie einen
ausgesetzten Spitz von der Straße mit nach Hause brachte und ihn „Lumpi“
taufte. Natürlich mussten für „Lumpi“ umgehend ein Halsband und eine Leine
gekauft werden. Und dann sagte sie so en passant, damals, auf dem Bahnsteig in
Prag, habe sie meinen Vater aus Angst, dass sie ihn zwischen Tausenden von
Flüchtlingen und permanenten Bombenangriffen verliert, auch angeleint. Ich
murmelte ein „das mit dem Zug hat die Oma mal erzählt“ in die Muschel. Von dem
Moment an war ich mit dem Verdrängen der Geschichte so erfolgreich wie mit dem
Ignorieren von Zahnschmerzen. Oder dem Abstreiten von Wehen. Um es kurz zu
machen, es war ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. „Es ist so schön
dort“, hatte der Onkel zum Abschied am Telefon geschwärmt. „Fahr doch mal hin,
das hätt‘ die Wally sicher gefreut!“
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Bahnhofstrasse 8, Bad Salzbrunn
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„Du hast da absolut nix
verloren“, sagte mein Kopf. „Wir könnten doch mal unverbindlich bei Google
Street View gucken, wie es dort aussieht“, argumentierte eine innere Stimme
dagegen. Der amerikanische Technologieriese hatte richtig gute Vorarbeit
geleistet, indem er 2012 weite Teile Polens virtuell fürs Internet annektiert,
also abfotografiert hat. Mit gemischten Gefühlen brach ich an einem
Ostersamstag im April 2013 zur ersten digitalen Erkundungsfahrt in die Heimat
meiner Oma auf.
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31. August 1963 - (c) Allgemeine Zeitung |
„Der Vater ist ja immer
mit der Straßenbahn zur Arbeit gefahren. Und der Walter hat im ‚Schlesischen
Hof‘ als Koch gearbeitet. Dann hat Generalfeldmarschall Schörner das Grandhotel
zu seinem Hauptquartier gemacht“, hatte sich der Onkel erinnert. Walter war das
älteste der sieben Kinder meines Urgroßvaters. Bernhard, sein Zweitgeborener,
war Oberfeldwebel der Wehrmacht und mit seiner Kavallerieeinheit in
Fürstenwalde bei Berlin stationiert. „Weit weg vom Vater“, hatte sich der Onkel
zögerlich erinnert. Denn der alte Herr hatte die Angewohnheit, seine belegten
Brote in der Nachtschicht unter Tage mit russischen Kriegsgefangenen und
Zwangsarbeitern zu teilen. Bis er wegen „Wehrkraftzersetzung“ beim
Ortsgruppenleiter von Bad Salzbrunn angeschwärzt wurde. Mit seinem ehrlosen
Verhalten „gegen Führer, Pflicht und Vaterland“ gefährde er die Karriere seines
Sohnes. Dann wurde er mit Lebensmittelkürzungen und Gefängnis bedroht. Tja, der eine
verpflegt die Russen, der andere erschießt sie, dachte ich seltsam berührt. Den
Konflikt zwischen Vater und Sohn hat übrigens nicht ein Parteibonze der Nazis
entschieden, sondern ein Soldat der Roten Armee. Mit einem glatten
Lungendurchschuss.
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Rathaus von Breslau
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Ende April 2013 war klar, dass ich zu einem
unaufschiebbaren OP-Termin ins Krankenhaus „einrücken“ müsste. Um mich
abzulenken, surfte ich mal wieder ziellos durch Schlesien. Irgendwo dazwischen
war damals die Werbeanzeige mit dem „Europa Sommer Special“ der Deutschen Bahn
geschaltet. Wrocław (das frühere Breslau) –
eine Stadt, von der meine Oma immer wieder mit glänzenden Augen geschwärmt
hatte, stand auf der Liste der vergünstigten Zielorte. 49 Euro für die Fahrt
von Frankfurt nach Breslau in der 1. Klasse. Bisschen dekadent, dachte ich.
Meine Oma hatte es im Februar 1945 bei minus zwanzig Grad in den Zügen der
Deutschen Reichsbahn sicher weniger komfortabel gehabt. Dass die Reise wegen
unterspülter Gleise in Sachsen-Anhalt noch kurzfristig über Dresden umgebucht
werden musste, nahm ich völlig gelassen hin. Seit 1945 war so viel Zeit
vergangen, da kam es jetzt auf ein oder zwei oder drei Stunden Verspätung auch
nicht mehr an.
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Breslau Hauptbahnhof
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Breslau ist übrigens
gefühlt viel weiter von Frankfurt entfernt als es de facto der Fall ist. War
zumindest mein erster spontaner Gedanke, als mich der völlig überfüllte
Regionalexpress, der täglich zwischen Dresden und „Wrocław Glowny“ pendelt, mit polnischen
Großfamilien, einem tobenden Kleinkind inklusive dazugehörigem Buggy plus
unzähliger Persil- und Pamperskartons auf dem Bahnsteig ausspuckte. Es dauerte
keine zwanzig Meter die Piłsudski (ehemals Gartenstraße) hinauf, und ich fühlte
mich angekommen. Breslau würde ich atmosphärisch irgendwo zwischen Berlin und
Wien verorten. Also fünf Sterne auf meiner inneren, sympathisch bis morbiden
Beliebtheitsskala.
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Frühstückssaal im "Hotel Polonia"
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Wobei ich nicht
annähernd drei Sterne – die es de facto hat – an das „Hotel Polonia“ vergeben
würde. Damit meine ich nicht, dass das ehemalige „Vier Jahreszeiten“ in der
Piłsudzkiego 66 schon mächtig in die Jahre gekommen ist. Was nicht nur am
ächzenden Eisenaufzug ohne Türen lag. Nein, auch für die ehemals rot-goldene
Samttapete im engen, dafür aber umso höheren Flur könnte ich mich sicher noch
begeistern. Der Patina-Look ließ zumindest erahnen, wie es um das ehemalige
Grandhotel früher bestellt gewesen sein muss. Damals, als der elitäre, am
englischen Stil ausgerichtete „Schlesische Klub” während der Weimarer Republik
im ersten Stock residierte. Was ich jedoch seit meiner Flugbegleiterzeit
partout nicht leiden kann, sind zerschlissene Orientteppiche, die kreuz und
quer über den Stufen der einzig brauchbaren Fluchttreppe in der Nähe meines
Zimmers im dritten Stock lagen. Oder der Hinterhof, der so verwinkelt gebaut
ist, dass da absehbar keine Feuerwehr der Welt mit einer entsprechend langen
Drehleiter hineinkommt. Im Innenhof sind übrigens bis heute die Folgen des
Generalumbaus zu besichtigen, die ein gewisser Otto Schenderlein dem Haus im
Geiste seines Führers mit vereinfachenden Formen hat angedeihen lassen. Da
Hitler ein eklektisches Verhältnis zum Barock hatte, musste der wunderschöne
Stuck der Jahrhundertwende nach 1939 einer sichtlich verkrampften
Monumentalität weichen.
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Rynek - Der Marktplatz von Breslau
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Die polnische Stadt an
der Oder hat sich in den vergangenen Jahren auf den Weg gemacht, 2016 als Europäische
Kulturhauptstadt zu repräsentieren. Allein die beeindruckenden Bürgerhäuser am
Marktplatz, dem „Rynek“, die wiederauferstandene Oper oder die famose Aula der
Leopoldina Universität sind für sich eine Reise in die viertgrößte Stadt Polens
wert. Als das spätgotische Rathaus, Wahrzeichen und politischer Mittelpunkt der
Woiwodschaft Niederschlesien, in der Abendsonne strahlt und funkelt, fühle ich
mich an Frankfurt erinnert. An den Römer und den Römerberg. Beide Städte haben
ja gemeinsam, wichtige mittelalterliche Handelsplätze gewesen zu sein. Das
Pendant zu unserem „Ratskeller“ ist der legendäre „Piwnica Świdnicka“
(Schweidnitzer Keller), mit über 700 Jahren übrigens Polens älteste
Bierschenke. Und der „Rynek“ ist vergleichbar unserer „Gudd Stubb“, allerdings
ist er nicht ganz so kuschelig.
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Der Schweidnitzer Keller - Polens ältestes Schankhaus - in Breslau |
Als Frau Bebel bei
unserer Stadtführung am nächsten Tag einräumt, dass die Fassaden der
Bürgerhäuser an der Südseite des Marktplatzes „pseudohistorisch“ nachgebaut
wurden, umspielt meine Mundwinkel ein wissendes Lächeln. Frankfurter kennen die
Probleme rekonstruierter Häuser wie zum Beispiel des „Großen Engel“ in der
Ostzeile auf dem Römerberg. Schade, dass Breslau mit Wiesbaden eine
Städtepartnerschaft eingegangen ist. Nichts gegen unsere hessische
Landeshauptstadt, möge den Nassauern am Rhein ein langes Leben vergönnt sein.
Aber im Schweidnitzer Keller ließe sich mit Piroggi und polnischem Bier, Grüner
Soße und Äppler sicher auch eine formidable Main-Oder-Freundschaft besiegeln.
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Uwaga Krasnale! - Achtung Zwerge!
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Was Breslau allerdings
gravierend von Frankfurt unterscheidet, sind die Zwerge. Die kleinen Gnome aus
Bronze sind ein Überbleibsel der „Alternative in Orange“, die sich in den Achtzigerjahren
an der Solidarność-Bewegung beteiligt hatte. Getreu dem Motto „Zwerge aller
Länder vereinigt euch“ tauchten die Trolle immer irgendwo im Stadtbild auf.
„Uwaga Krasnale!“ (Achtung, Zwerge!) hatte unter anderem zum Ziel, den
kommunistischen Pomp lächerlich zu machen. Heute haben die sympathischen
Figuren der ehemaligen Untergrundbewegung einen eigenen Stadtplan und unter www.krasnale.pl auch eine eigene Homepage.
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Jerzy Kalina „Przejście 1977–2005“ (Übergang)
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Einem weiteren Symbol
für den Umbruch vom Kommunismus zur Demokratie laufe ich an der Jozefa
Pilsudskiego in der Nähe meines Hotels förmlich über den Weg. Dort verschwinden
auf der einen Straßenseite in Bronze gegossene Figuren im Untergrund und kehren
auf der gegenüberliegenden Seite wieder ins pulsierende Leben an die Oberfläche
zurück. Die Installation von Jerzy Kalina „Przejście 1977–2005“ (Übergang) soll
an die Zeit erinnern, als politisch engagierte Bürgerinnen und Bürger vor
der Staatssicherheit untertauchen mussten.
„Breslau hat eine sehr
bewegte Geschichte“, eröffnet Frau Bebel unsere dreistündige Stadtführung vor
dem Denkmal von Aleksander Graf Fredo, „dem polnischen Molière“. Wir, das sind
acht Deutsche. Beim Blick in die Runde beschleicht mich das Gefühl, dass ich
den Altersschnitt der Fußgruppe nachhaltig senke. Wobei Breslau mit über
140.000 Studierenden bei 630.000 Einwohnern eine ausgesprochen junge Großstadt
ist. Frau Bebel interessiert, woher wir kommen. „Görlitz.“ „Dresden.“
„Magdeburg.“ Ich bin als Letzte dran. „Frankfurt.“ „Am Main“, schiebe ich
zögerlich nach und ernte prompt erstaunte Blicke. Über den Rathausvorplatz mit
seinem Pranger nur für Männer, am Naschmarkt und den Häusern von Hänsel und
Gretel vorbei, pilgern wir durch die Altstadt Richtung Tumski-Brücke und
Dominsel. Im Schatten der St.-Elisabeth-Kirche
passieren wir das „Denkmal zu Ehren von Schlachttieren“. Trotz des Verbots
haben hier im Viertel die Metzger im 13. Jahrhundert ihre Schlachtereien über
den Wohnungen errichtet. Frau Bebel umschreibt die Zustände pittoresk mit
Begriffen, die ich mit „zivilem Ungehorsam“ assoziiere. Irgendwie werden mir
diese Polen zunehmend sympathischer.
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"Denkmal zu Ehren von Schlachttieren“ in Breslau
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Auf den Steinstufen in
die weltberühmte Aula der Leopoldina hinauf erzähle ich ihr, dass mein Urgroßvater
von 1918 bis 1945 in den Waldenburger Kohlezechen gearbeitet habe. Und ich das
erste Mal zum Geburtsort meiner verstorbenen Oma reise. „Entschuldigen Sie“,
unterbricht uns die Frau aus Dresden mit klassisch-sächsischem Akzent, „ich
suche diese Straße. Leider ist hier alles auf Polnisch“, und wedelt mit einem
Stück Papier ungehalten in der Luft herum. Das Lächeln unserer Führerin bleibt
freundlich entwaffnend. „Ja“, nickt sie verständnisvoll, sie kenne das. „Wir
hatten hier nach dem Ende des Kommunismus auch Umbenennungen.“ Galant die
Klippe umschifft, denke ich amüsiert. Und seufze vernehmbar, weil es
offensichtlich immer noch Menschen gibt, deren Leben irgendwo zwischen 1933 bis
1945 stehengeblieben ist. Es ist doch gefühlt ein eher deutsches Problem, dass
die Straßen in Breslau heute andere Namen haben, finde ich. Und dass das so
ist, ist doch nicht die Schuld der Polen, oder? Denn die haben doch bloß das
Schlachthaus, das die Deutschen hinter Oder und Neiße hinterlassen haben,
wieder aufgeräumt.
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Aula der Leopoldina-Universität
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Mit der Straßenbahn geht
es am Nachmittag über die „Ślężna“ Richtung Süd-Osten zum Alten Jüdischen
Friedhof. Ich will Ferdinand Lassalle einen Besuch abstatten. Immerhin hat er
vor 150 Jahren den „Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein“ gegründet, aus dem
dann meine Partei hervorgegangen ist. Und da die SPD dieses Jahr ihren runden
Geburtstag zum Anlass nimmt, die ganze Geschichte zu feiern, habe ich
beschlossen, ihm ein Steinchen auf die schwarze Grabplatte zu legen. Auch als
Dank für seinen Mut, für alle Deutschen das allgemeine, gleiche und direkte
Wahlrecht zu fordern. Was wäre wohl aus der Sozialdemokratie geworden, grübele
ich auf dem frisch geharkten Kiesweg, wenn er das Duell um Helene von Dönniges
gewonnen hätte?
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Am Grab von Ferdinand Lasalle in Breslau
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Ein Vogel zwitschert
leise im üppigen Grün des Friedhofs. Zwischen überwucherten Grabsteinen und
einfachen Stelen, die sich mit von steinernen Rosen umrankten Sarkophagen und
prunkvollsten Grabbauten abwechseln, gaukelt ein weißer Schmetterling planlos
hin und her. Ich folge dem Falter, der über Grabsteine von Schriftstellern,
Bankinhabern, Unternehmern, hochrangigen Beamten und Gefallenen des Ersten
Weltkriegs ziellos umherflattert. Galt der Schmetterling in der Antike nicht
als Sinnbild für Wiedergeburt und Unsterblichkeit? Zwischen hebräischen und
deutschen Inschriften fühle ich mich plötzlich wie ein Wanderer zwischen den
Welten.
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Der Alte Jüdische Friedhof in Breslau
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„Eine Rose gebrochen –
ehe der Sturm sie entblättert“, die im Jugendstil gehaltene Grabinschrift erinnert
an eine Frau, die nur dreiundzwanzig Jahre alt geworden ist. Verschnörkelte
Grabsäulen im Schatten riesiger Buchen und Kastanien wechseln sich mit
einfachen Mazzewas ab. Einzelne, gebrochene Bäume aus Stein stehen sinnbildlich
für einen frühen und offensichtlich tragischen Tod. „In der Jugend schönste
Hoffnungen erweckend, wurde er später zum Schmerze der Seinen. Von einem
Traumleben umfangen, dass ein sanfter Tod endete“, beschreibt einfühlsam in
goldenen Lettern auf schwarzem Granit das Leben eines Mannes, von dem sich
seine Familie bereits 1920 verabschiedet hat. Inschrift um Inschrift lese ich
mich durch die Vergangenheit. Ein Friedhof als in Stein gemeißeltes
Poesiealbum. Nur eben nicht mit Wünschen für die Zukunft, sondern mit der
Erinnerung gelebter Leben. 1850, 1900, 1939. Immer wieder 1939. Jahreszahlen
wie im Klassenbuch. Dann haben die Deutschen das Heft zugeklappt. Es gibt keine
Nachgeborenen mehr. Der Holocaust hat auch das Schicksal des Pantheons der
Breslauer Juden besiegelt. Ein weißer Schmetterling flattert um herabgefallene
Grabsteinplatten an der meterhohen Umfriedung des Alten Jüdischen Friedhofs und
entschwindet im Gegenlicht. Ich blinzele in die untergehende Abendsonne und
habe einen dicken Kloß im Hals.
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Im Regionalexpress Richtung Erzgebirge
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Am nächsten Tag hat der
Regionalexpress nach Wałbrzych (Waldenburg) Verspätung. Da ich nicht zur Arbeit
muss, nehme ich die Dinge gelassen hin. Ist eh nicht zu ändern, denke ich. Das
putzige Abteil in der zweiten Klasse hat den Charakter einer Puppenstube und
erinnert mich an meine Schulzeit, als ich jeden Morgen mit dem Zug in die
nächste Kreisstadt zum Unterricht fuhr. Tiefe Polstersitze auf dicken
Sprungfedern – darauf ließ sich als Kind schon prima hüpfen –, taubenblaue
Synthetikvorhänge und zwei karamellfarbene Resopalbrettchen am Fenster. Fürs Frühstück.
Das Fenster klemmt ausnahmsweise nicht, und ich genieße den warmen Fahrtwind im
Gesicht. Willkommen zur Reise in die Vergangenheit. Bei Jaworzyna Śląska
(Königszelt) passiert die Diesellok pfeifend das hiesige Lokomotivmuseum (www.muzeumtechniki.pl). Rund einhundertzwanzig
Dampfloks und Waggons, in denen eine Ausstellung die Rolle der Reichsbahn für
das Schicksal der Vertriebenen behandelt, sind direkt neben unserem Gleis
geparkt. Das Museum hat im vergangenen Jahr übrigens übers Internet ein
Patenschaftsprogramm gestartet, um die majestätischen Stahlrösser aus ihrem
Dornröschenschlaf aufzuwecken. Ich betrachte die übermächtigen schwarzen Riesen
nicht nur mit Respekt. Sondern auch mit unterschwelliger Ambivalenz, die sicher
meine Oma wie auch meine Mutter aufgrund ihrer Erfahrungen mit Bahnfahrten im
Krieg unter Bombenangriffen auf mich übertragen haben.
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Abgestellt: Das Lokomotivmuseum von Jaworzyna Śląska (Königszelt) |
Seit 1853 verbindet der
Eisenbahnanschluss Wałbrzych, das zwischen Riesen- und Eulengebirge im
Waldenburger Bergland liegt, mit Breslau. Ab 1898 hat dann die Waldenburger
Kreisbahn die schlesische Kreisstadt mit den umliegenden Steinkohlezechen, Spinnereien
und Porzellanfabriken verbunden. Die Straßenbahn brachte meinen Urgroßvater
sechs Tage die Woche zur Arbeit in die Stollen. In den Sechzigerjahren hat man
den Bahnbetrieb eingestellt, 1996 dann die Zechen geschlossen. Und dreißig
Prozent der 130.000 Einwohner in die Arbeitslosigkeit entlassen. Ein noch nicht
mal bei Google verzeichnetes Denkmal aus weißen Stelen an der „Aleja
Wyzwolenia“ entbietet seit 2007 den „Söhnen der Waldenburger Erde“ für
vierhundert Jahre Industriegeschichte einen letzten Gruß.
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Denkmal für die „Söhne der Waldenburger Erde“ |
So schnell will Frau
Buniewicz im Waldenburger Tourismusbüro nicht aufgeben. Fast eine halbe Stunde
sucht sie im Internet für mich in historischen Dokumenten nach der Zeche, wo
mein Urgroßvater gearbeitet hat. Wir verständigen uns in Englisch, das klappt
bestens. Das Foto meiner Urgroßeltern, das anlässlich der Goldenen Hochzeit im
August 1963 in der „Allgemeine Zeitung“ mit Glückwünschen von örtlichen
Honoratioren veröffentlicht worden war, hat ihr ein Lächeln ins Gesicht
gezaubert. Okay, ich komme spät, gestehe ich der jungen Frau. Vielleicht zu
spät, da die Zechen alle dichtgemacht wurden. Doch Zeit ist im Tourismusbüro
von Waldenburg im Haus „Biblioteka“ am mit roten Geranien gesäumten und frisch
gefegten Marktplatz ein sehr relativer Begriff. Der Onkel hatte sich vage
erinnert, dass der Vater bis zur Einberufung in den Volkssturm „auf Louise“
gearbeitet habe. Die Russen haben ihn als Zwangsarbeiter in den Uranbergbau ins
Erzgebirge geschickt. Als sich 1948 die Geschichte mit den Butterbroten herumsprach,
konnte er nach Hause gehen. Wobei „nach Hause“ damals ja auch relativ war,
seine Frau mit ihren Töchtern und Enkeln war nach der Flucht mittlerweile in Bayern, in "Furth im Wald", gestrandet. Wir finden in der Waldenburger Flözkarte von 1905 eine Grube mit
dem Namen „Louise Charlotte“, die zur „Consolidirte Fuchsgrube“ zählte. In
einer späteren Karte ist der Name „Louise“ getilgt. Ich erinnere mich, dass die
jüngere Schwester meiner Oma „Lotte“ gerufen wurde, aber eigentlich Charlotte
hieß. Ist das die Verbindung? Oder hat der Onkel den „Lisia sztolnia“ gemeint?
Ich bin verunsichert. Doch Frau Buniewicz motiviert mich, nicht aufzugeben. Sie
mailt mir zum Abschied die Links zu den Karten der stillgelegten
Bergwerkschächte auf mein Handy und wünscht mir bei meiner Reise in die
Vergangenheit viel Glück.
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Waldenburger Industriebezirk 1905
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Ich will in der Bibliothek
des „Muzeum Przemysłu i Techniki“ (Museum für Industrie und Technik), das die fünfhundertjährige
Geschichte des Bergbaus im Sudetenland beherbergt, weitersuchen. Weit über
Waldenburg hinaus flimmern die beiden charakteristischen Fördertürme „Julia“
und „Sobótka“, die Teil des Museums sind, in der Sonne vor grau vorbeiziehenden
Kumuluswolken am Horizont. Ich schöpfe neue Hoffnung. Die kurze Zeit später ein
junger Mann mit langem Zopf, Kappe und martialisch tätowierten Armen am
Eingangstor der stillgelegten Fuchs-Zeche unbeeindruckt beerdigt. Das Museum
habe geschlossen. Wegen Umbau. Morgen und übermorgen auch. Also eigentlich bis
ins nächste Jahr. Wir verhandeln in Englisch – hier spricht offensichtlich
niemand unter fünfzig Deutsch –, ich zeige ihm das Foto meines Urgroßvaters,
starte eine Charmeoffensive. Alles umsonst. Der Wachmann bleibt so
unbeeindruckt wie der Security-Chef, der die VIP-Betreuung von Till Lindemann
in Wacken verantwortet. Tausend Kilometer mit der Bahn aus Deutschland
gekommen? Selbst wenn ich vom Mond angereist wäre, hätte es keinen Unterschied
für ihn gemacht. Ich soll nächsten Sommer wiederkommen, rät er mir und stapft
zurück ins Wächterhäuschen hinterm Schlagbaum. Einfach mal im Internet gucken,
ruft er mir noch zu, wann das Museum wieder öffnet. Guter Rat, denke ich, denn
im Internet steht nicht drin, dass die Zeche wegen Umbau geschlossen ist. Aber
auf den Tourismusseiten von Waldenburg wird ja auch noch das Hotel „Sudety“,
das kurz vorm Abriss steht, zur Übernachtung empfohlen.
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Hotel Sudety in Waldenburg
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Polen wäre nicht Polen,
wenn sich für mein Problem keine Lösung findet, überlege ich. Irgendwas ging
mit meiner „Mischpoke“ doch auch immer. Also trabe ich unbeirrt am Zaun entlang
und stelle fest, dass nicht nur in Hessen Kabeldiebe ihr Unwesen treiben. Je
mehr ich mich durch hüfthohes Grün den Werkhallen annähere, umso dramatischer
wirkt der Verfall der Zeche. Die Natur erobert sich erbarmungslos die
verlassene Anlage zurück. Als ich zum Fotografieren über eine verrostete
Turbine klettere, flüchtet ein Rudel erschreckter Heuschrecken ins Gras. Und
über meinem Kopf steigt zornig pfeifend ein erboster Mauersegler ins wolkige
Blau. Zwei weiße Falter gaukeln um mich herum. Ich will die Karte von Frau
Buniewicz im Handy aufrufen, doch der Empfang hier im Nirgendwo von
Südschlesien erweist sich durchaus noch als ausbaufähig. Wie lange würde es
dauern, bis mich jemand hier unten in den Gruben einer stillgelegten Zeche kurz
vor der polnisch-tschechischen Grenze suchen würde?
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Im „Muzeum Przemysłu i Techniki“
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Als ich das Zimmer im
Hotel „Maria Helena“ in Szczawno-Zdrój (Bad Salzbrunn) übers Internet gebucht
habe, wusste ich nicht, dass meine Familie gerade hinter der nächsten
Straßenbiegung in der Bahnhofstraße 8 im Gartenhaus gelebt hatte. Die rote
Backsteinvilla mit ihrer großen Freitreppe in den vorderen Garten hat mit
Geranien und Vergissmeinnicht die Zeitläufte unbeschadet überstanden. Auch die
Post neben der Villa ist immer noch in Betrieb. Nur das Hinterhaus mit den
Kaninchenställen ist zwei modernen Einfamilienhäusern gewichen. Klingt vielleicht
seltsam, aber ich finde innerlich keinen Bezug zu diesem Ort. Muss auch nicht
sein, denke ich und überquere gut gelaunt die Straße Richtung „Schlesischer
Hof“.
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Bahnhofstrasse 8
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Das ehemalige Grandhotel
wurde von 1909 bis 1911 von Graf Hans Heinrich XV. von Hochberg, dem dritten
Fürsten von Pleß, und seiner Frau Daisy, errichtet. Heute beherbergt der
imposante Bau ein Sanatorium. Das „Dom Zdrojowy“ scheint ausgebucht zu sein,
denn an nahezu allen gusseisernen Balkonen flattern die bunten Handtücher der
Kurgäste. Die schwere Holzdrehtür befördert mich quietschend zurück ins letzte
Jahrhundert. Eine prachtvolle Eingangshalle, Stuck, Marmorkamine, bis an die
Decke reichende Spiegel und ein ungewöhnlicher Kristallleuchter aus der
Jugendstilzeit erinnern an eine längst vergangene Zeit.
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Hotel Schlesischer Hof in Bad Salzbrunn
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Über einen purpurroten,
leicht abgewetzten Teppich, dessen tiefer Flausch zwischen stilisierten Lilien
all meine Schritte schluckt, schreite ich durch zwei weit geöffnete Flügeltüren
nach draußen. Hier also hat sich die wilhelminische Gesellschaft nach dem
Golfspiel zum Tee getroffen. Ganz allein stehe ich auf der Terrasse. Zwei
Gärtner rechen unten im Park frisch gemähtes Gras zusammen. Eigentlich ein
Idyll. Eigentlich. Wenn da nicht die braunen Flecken wären. Und damit meine ich
nicht die sichtbaren, die das Regenwasser an einigen Stellen im ockerfarbenen Putz
hinterlassen hat. „Sanatorium Göringa“ steht als Bezeichnung für die Zeit bis
1945 auf der in Polnisch verfassten Tafel im Seitenflur zum Frühstücksraum.
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Auf den Spuren von Daisy im Grandhotel "Schlesischer Hof" |
In den „Hidden Places“
im Internet ranken sich unglaubliche Mythen um den „Schlesischen Hof“. Fakt ist
jedoch, dass hier Hitlers Wehrmachtsgeneräle bis zur Flucht am 12. Februar 1945
vor der Roten Armee residiert haben. Der gesamte Komplex hat eine Breite von etwa
hundert Metern. Zwischen den Seitenflügeln der Kurklinik soll sich noch heute
ein Bunker unter dem Park befinden. Als sich der Luftkrieg 1943 zuzuspitzen
begann, hatte man in Berlin nach einem Ausweichquartier für den Führer zu suchen
begonnen. In die Planungen wurde damals auch „Zamek Książ“, das acht Kilometer
von Bad Salzbrunn entfernte Schloss Fürstenstein der Familie Pleß, einbezogen.
Und zur Realisierung des gigantischen Bauvorhabens mehr als zwanzigtausend der
125.000 Häftlinge des nahe gelegenen KZs Groß-Rosen hierher in Außenlager
verschleppt. Arbeit machte damals ja bekanntlich „frei“. Die letzten
Überlebenden dieser deutschen Mordmaschinerie hat jedoch erst die Rote Armee
befreit. Auf den Stufen des „Dom Zdrojowy“ wirkt die Parklandschaft knapp siebzig
Jahre später unglaublich friedlich. Heilt Zeit wirklich alle Wunden? Ich lasse
ratlos mein kleines Samsung sinken und blinzele in die untergehende Abendsonne.
Aus dem linken Seitenflügel wehen Gesangsfetzen eines Alleinunterhalters,
untermalt von einer einsam quäkenden Hammondorgel. Kurkapelle statt
Marschmusik. Auch wenn der ein oder andere Ton nicht getroffen wird, ist es mir
so lieber. Da der Onkel kein Handy hat, schreibe ich ihm auf den Stufen des
„Schlesischen Hofs“ eine Postkarte. Und hoffe, dass ihn der Gruß aus seiner
alten Heimat erfreut.
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Im Garten von "Dom Zdrojowy"
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Für die letzte Station
meiner Reise habe ich ein Zimmer auf Schloss Fürstenstein gebucht. Im April
1944 hatte die „Organisation Todt“, die für das Geheimprojekt
„Führerhauptquartier Riese“ verantwortlich zeichnete, das prachtvolle barocke
Schloss als Dienstsitz bezogen. Und ganz im Sinne ihres Führers „umgebaut“.
Also Terrassen und Wasserleitungsanlagen zerstört, Granitportale
herausgerissen, Stukkaturen und Fresken abgeklopft und Möbel sowie Gemälde
geraubt. Das Haus sollte schließlich ein für die Naziarchitektur
charakteristisches Aussehen erhalten.
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Zamek Książ - Im Ehrenhof von Schloss Fürstenstein in Schlesien |
Unter „Zamek Książ“
wurden enorme Tunnel mit einer Gesamtlänge von bis zu zwei Kilometern gegraben.
Das heißt, Kriegsgefangene und Häftlinge des KZs Groß-Rosen mussten diese unter
irrsinnigen Bedingungen in die Felsen treiben. Im Ehrenhof mit seinem repräsentativen
Haupteingang wurde ein fünfzig Meter tiefer Schacht angelegt. Von dort sollte
später ein Aufzug in die unterirdischen Höhlen und Katakomben führen. Mehr als
ein Erdtrichter war jedoch bis zur Besetzung der Roten Armee im Mai 1945 nicht
zustande gekommen. Was für eine sinnlose Barbarei, denke ich fassungslos beim
Betrachten der vergilbten Fotos in den Korridoren des Schlosses und schließe
mich im zweiten Stock einer deutschsprachigen Reisegruppe an.
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Der ehemalige Ballsaal im Hotel Fürstenstein
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Gerüchten zufolge haben
die Nazis den spätbarocken „Konradsaal“ auch deshalb entkernt, um dort „nach
dem Endsieg“ das Bernsteinzimmer einzurichten, plaudert der Gästeführer. Im
ehemaligen Ballsaal hat das Oberkommando der Wehrmacht den wundervollen Stuck
an der Decke abschleifen lassen, um diese anschließend mit einer drei Meter
tieferen, einfachen Holzvertäfelung abzuhängen. Was mich in meiner Überzeugung
bestätigt, dass niedrige Decken und Denkvermögen schon früher in enger
Korrelation zueinander gestanden haben. Die Köpfe der Besuchergruppe recken
sich nach oben. „Wie das hier aussieht!“, raunt eine grau melierte Frau ihrem
eifrig nickenden Nachbarn empört zu. „Wie das hier aussieht!“ erinnert mich an den
Film „Sonnenallee“, als Onkel Heinz in typisch westdeutscher Manier beim Besuch
der Ost-Verwandtschaft im Plattenbau pikiert mit dem Fingernagel an der Tapete
kratzt und triumphierend „Asbest!“ trompetet. „Ja, wie sieht‘s hier wohl aus?“,
frage ich die Frau, die irritiert ist, weil ich sie verstanden habe. „So sieht‘s
halt aus, wenn Onkel Adolf nicht auf Barock steht!“, zwinkere ich ihr
verschwörerisch lächelnd zu. Und ernte zutiefst betretene Blicke gepaart mit
giftigem Zischeln. Es ist nicht immer leicht, Deutsche zu sein, seufze ich.
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Der Maximiliansaal von Zamek Książ
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Umso mehr erfreue mich
am opulenten Barock des Maximiliansaals, den die Schergen der Operation Todt
nahezu unangetastet gelassen haben. Beim Fotografieren der vergoldeten Balkone
fürs Hoforchester lerne ich David und seine Mutter kennen. Sie sind wie ich auf
Spurensuche, und wir sind uns spontan sympathisch. Gemeinsam lassen wir den Tag
am Grillstand über den zauberhaften Wasser- und Rosenterrassen ausklingen. Und
tauschen angeregt Eindrücke und Erfahrungen mit unseren schlesischen Wurzeln
aus.
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Die Wasserterrassen
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Die beiden wollen am
nächsten Morgen weiter, hoch auf die Schneekoppe, bevor es für sie zurück,
Richtung Westen, nach Hause geht. Ich will vor der Heimfahrt nach Frankfurt in
den Stollen von Fürstenstein den Glücksfelsen mit meiner linken Hand berühren.
Als die Sonne am Abend in einem blutroten Farbenrausch hinter Artemis und
Apollo am Horizont versinkt, habe ich längst meinen Frieden mit der
schlesischen Vergangenheit meiner Oma gemacht. Ja, der Onkel hatte recht
gehabt. Es ist wirklich wunderschön hier in Polen. Aber meine Heimat ist
trotzdem ganz woanders.
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Himmel über Schlesien - Sommer 2013
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