Aufbruch nach Transnistrien


Text: Petra Tursky-Hartmann
Fotos: Ferdinand Maximilian Schlüssler & Petra Tursky-Hartmann
Karten: Wikipedia, SPD, www.wehrmacht-forum.de

Ihr Name war Olga, hatte sich der Onkel erinnert und gedankenverloren die Stirn gerunzelt. Vierzehn sei er gewesen, als der erste Mann meiner Großmutter mit seiner Freundin aus Russland heimgekehrt war. Seitdem ist der Opa aus der Familie gefallen. Auf meine Frage, woran er sich erinnere, musste der Onkel nicht lange überlegen. „Sie hatte feuerrotes Haar.“

„Je niedriger die Hausnummern, desto näher sind wir am Meer“, bemerkt Ferdi und deutet auf die burgunderfarbene Jacht mit dem Namen „Olga“, die im Hafenbecken von Odessa ankert. „Um in der sommerlichen Hitze Schatten zu spenden“, fährt mein Reisebegleiter fort, „wurden die Straßen, die zum Strand führten, mit Akazien bepflanzt. Und die Straßen, die zum Hafen führten, mit Platanen … Hörst du mir überhaupt zu?“


Mein Blick hängt an der „Lady Saliha“, die hinter dem weißen Leuchtturm langsam Kurs aufs Schwarze Meer nimmt. Für einen Moment war es wieder da, dieses tiefe Gefühl von Sehnsucht, bevor mein Blick an der Kaimauer hängen blieb. „Schwimmen verboten“ hatte jemand auf die abgeplatzte Emaille eines Blechschilds gepinselt. „Also, wenn ein betrunkener Matrose sein Schiff im Hafen von Odessa sucht“, las Ferdi, „dann muss er sich nur an den Bäumen und den Hausnummern orientieren.“ Ich mustere erst ihn, dann die ölig-kalte Brühe vor mir. „Wenn ich betrunken bin, Ferdi, dann kann ich keine Platane von einer Akazie unterscheiden.“


Der wolkenlose Himmel über uns ist so stahlblau wie die Augen des charmanten Ukrainers, in dessen Minibus wir uns gestern, also Ferdi, zwölf fremde Seelen und ich, für 200 moldauische Lei (etwa zehn Euro pro Person) von Chișinău nach Odessa gequetscht haben. Doch Ferdi fokussiert bereits die senfgelben Kräne am Kai gegenüber, die wie gefräßige Heuschrecken emsig ihre Köpfe in den grün lackierten Schiffsbauch der „Mekele“ stecken. Von der „Ukraina“ – der Werft, wo 1793 die russische Schwarzmeerflotte gegründet wurde – weht monoton ein metallisches Hämmern herüber.

Ich vermute, dass Hans Tursky seine Olga irgendwo zwischen Woroschilowgrad und Kajewka kennengelernt hat. Denn in der Akte, die mir die Berliner Wehrmachtsauskunftsstelle 2015 zugeschickt hat, ist als letzter Einsatzort seiner Heeres-Panzerjäger-Abteilung 93 „Leova“ vermerkt. Das aber liegt 95 Kilometer südwestlich von Chișinău am Pruth, wo heute die Grenze zwischen Rumänien und der Republik Moldau verläuft.

Es ist nicht das erste Mal, dass mich die Geschichte meiner Familie in die Länder der ehemaligen UdSSR geführt hat. Im Frühjahr 2018 sind es die Republik Moldau, die Ukraine und Transnistrien (nein, das ist nicht die Heimat von Graf Dracula). Aber bis zum Aufbruch ins ehemalige „Bessarabien“ hatte ich Tiraspol noch nie auf dem Radar gehabt. Was nicht verwunderlich ist, denn die „Pridnestrowische Moldauische Republik“ – so der offizielle Name von Transnistrien – steht auf der Liste der Länder, von denen das Auswärtige Amt, tourismustechnisch betrachtet, abrät.


„Diese Reise klingt nach einem echten Abenteuer! Nimmst du mich mit?“

Aber der Reihe nach. Bevor wir über die wohl berühmteste Freitreppe der Welt, die Sergei Eisenstein 1925 in seinem Film „Panzerkreuzer Potemkin“ verewigt hat, zum Hafen von Odessa hinablaufen, hatten wir bereits das zweitgrößte Regierungsgebäude der Welt besichtigt, waren in einem Nachtzug von 1435 auf 1520 Millimeter umgespurt worden und konnten in einem unterirdischen Weinkeller die allerletzte Flasche von Mogit Davids Osterwein, Jahrgang 1902, bewundern.

Am oberen Ende der 192 Stufen der Potemkinschen Treppe, die vom Matrosenaufstand gegen Zar Nikolaus II. kündet, erwartet uns der Duc de Richelieu, dem ukrainische Marinekadetten sicher aus Fürsorge einen gestreiften Schal der Schwarzmeerflotte um seinen steinernen Hals geschlungen hatten. Vergangene Woche hatte es in Südosteuropa noch einmal heftig geschneit, sozusagen das allerletzte Aufbäumen eines langen russischen Winters. Doch heute zur Mittagszeit stieg das Thermometer auf angenehme zwanzig Grad, und die laue Luft roch nach Frühling. Das „Dizyngoff“ hat sofort seine Chance gewittert und Tische und Stühle auf den Gehweg gestellt, damit Gäste den Ausblick auf das Denkmal von Katharina der Zweiten genießen können. Die russische Zarin hatte die Gründung der Stadt 1794 in Auftrag gegeben. Frei, liberal, multikulturell, international, mit sehr breiten und geraden Straßen und noch größeren Villen sollte der erste eisfreie Handelshafen ihres Reiches zur „Riviera des Ostens“ und zur Vorzeigemetropole eines „neuen Russlands“ aufsteigen. Was man heute nicht mit dem „neuen Russland“ von Wladimir Putin verwechseln sollte.


Hinter dem Woronzow-Palast flanieren wir über die leicht schwingende „Schwiegermutter-Brücke“. Mir gefällt der gesunde Pragmatismus des ehemaligen Vorsitzenden der kommunistischen Partei von Odessa, der dieses Bauwerk 1968 einzig und allein dafür errichten ließ, seinen Weg zum Mittagstisch zu verkürzen. Ich kann das Motiv aus verschiedenen Gründen prima nachvollziehen, denn Frankfurt ist ja auch eine Stadt der kurzen Wege, und Essengehen in Odessa ein ausgesprochen leckerer Zeitvertreib. Mich beeindruckt der Mix aus ukrainisch-russisch-jüdischer Küche, und ich verfolge fasziniert, wie sich die „Ferdi-Robbe“ im Kumaneh und im Molodost durch Teller voller Schuba und Variniki schlemmt.

Auf der von Bauarbeiten aufgewühlten Preobrazhenska bestellen wir „Espresso to go“ an einem der kleinen Lavazza-Wagen, die hier an jeder Ecke stehen. Mein Blick schweift ab zur Büste eines hochdekorierten Soldaten, dessen grimmiger Blick schicksalsergeben auf den vom harten Frost gesprengten Platten des Gehwegs ruht. Ich habe den Mann schon einmal gesehen, nur wo? Auf meine Frage, wer der Offizier mit den buschigen Augenbrauen sei, zuckt der junge Barista eher gleichgültig mit den Achseln. Doch nachdem er Ferdi das Wechselgeld zurückgegeben hat, entziffert er für uns die Inschrift. „Malinowski“, sagt er, und ich verspüre Herzklopfen. Das also ist der Mann, dessen Lebensweg sich vor 74 Jahren mit dem Lebensweg meines aus der Familie gefallenen Großvaters gekreuzt hat. Genauer gesagt am 24. August 1944 in „Kischinau“, wie es im Antrag auf Kriegsgefangenenentschädigung handschriftlich vermerkt ist.


Malinowski und die „Operation Jassy-Kischinew“

Rodion Jakowlewitsch Malinowski war damals Oberbefehlshaber der 2. Ukrainischen Front und leitete gemeinsam mit Fjodor Iwanowitsch Tolbuchin die „Operation Jassy-Kischinew“. „Großdeutschlands 6. Armee starb zweimal“, hatte „Der Spiegel“ im Februar 1965 über die Schlacht berichtet, deren Katastrophe die Nationalsozialisten bis zum Ende zu vertuschen suchten. „Zuerst vor Stalingrad im Februar 1943, dann in Rumänien im August 1944.“ Binnen fünf Tagen hatte die Rote Armee 19 Infanteriedivisionen, eine Panzer- und eine Panzergrenadierdivision der Wehrmacht ausgelöscht. 150.000 deutsche Soldaten starben (bei Stalingrad: 80.000), 106.000 Landser gerieten in Gefangenschaft (bei Stalingrad: 108.000) und weitere 80.000 Deutsche blieben laut „Spiegel“ für immer verschollen.

Ich bin bestürzt, weil ich nicht damit gerechnet habe, hier in dieser schmalen Seitenstraße von Odessa auf Malinowski zu stoßen. Vuchetich – der auch das Sowjetische Ehrenmal in Berlin gestaltet hat – hat die Büste kurz vor dem Tod des späteren sowjetischen Verteidigungsministers erschaffen. Und ich habe das Gefühl, dass dies nicht die einzige Überraschung auf dieser Reise in die Vergangenheit meiner Familie bleiben wird.


„Diese Reise klingt nach einem echten Abenteuer! Nimmst du mich mit?“, hatte mich Ferdi letztes Jahr gefragt. Ähm ja, warum nicht, habe ich gedacht. Unterwegs Gesellschaft zu haben, ist ja schon etwas Feines, besonders wenn man den gleichen Humor hat. Außerdem teilen wir das Schicksal von Nachgeborenen großer Familienclans, die der Zweite Weltkrieg kreuz und quer über Ost- und Westeuropa verstreut hat. Das verbindet. Wobei es auch Unterschiede gibt, und damit meine ich jetzt nicht die üblichen zwischen Frauen und Männern. Es bezieht sich mehr auf Ferdis virtuoses Handling seiner Apps, mit denen er unser Touristenleben in Südosteuropa perfekt organisiert. Im Gegenzug verfalle ich nicht in Panik oder Hysterie, wenn wir kein Wechselgeld für Fahrkarten haben oder der Pass unauffindbar in den Untiefen der Reisetasche verschwunden ist. Dinge finden sich, bin ich überzeugt. Und deshalb passte es mit uns. Aber vielleicht sollte ich die Geschichte von unserem Aufbruch nach Transnistrien einfach von Anfang an erzählen.



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Petra Tursky-Hartmann: Zur besonderen Verwendung
Eine Reise in die Vergangenheit meiner Familie
Paperback, 246 Seiten
ISBN-13: 9783756818334
Verlag: Books on Demand
Erscheinungsdatum: 10.01.2023
Sprache: Deutsch
Farbe: Ja
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Buch: 24,99 €
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Vielen Dank für Ihr Interesse