Ein Zufall brachte neue Erkenntnisse
Am 4. August 2025 hatte Stefan Hammer, der Schulleiter meiner ehemaligen Schule, ins "Lina-Hilger-Gymnasium" in Bad Kreuznach zu einer Pressekonferenz eingeladen, um das Projekt vorzustellen, an dem ich gemeinsam mit einer Klassenkameradin mehr oder minder durch Zufall seit eineinhalb Jahren arbeite.
Es ging um die Aufarbeitung der NS-Zeit in meinem Lyzeum, eine Mädchenschule (die sie heute nicht mehr ist), die 1903 gegründet worden war und an der ich 1979 Abitur gemacht hatte. Ich habe „gelernt“ (Jubiläumsschriften von 1978 und 2003), dass diese Schule etwas Besonderes ist, dass zwar ihre Gründerin Lina-Hilger 1933 pensioniert wurde, weil sie die Bücherverbrennung nicht mitmachen wollte, aber trotzdem unsere Schule "nie konsequent" gleichgeschaltet war. Nun gab es anlässlich unserer 45-Jahre-nach-dem-Abitur-Feier im März 2024 die Idee, einen Besuch im Schularchiv zu machen, um dort nach Presseartikeln etc. aus den 1970er-Jahren zu suchen, u. a. auch "meine" Abi-Zeitung. Gesagt, getan. Beim Öffnen der Schränke fiel mir eine Akte von 1933 bis 1945 auf, und auf die Frage, ob ich fotografieren dürfe, gab es keine Einwände. Ich hab ziemlich schnell gesehen, dass die Akte eigentlich das Gegenteil belegte, was ich gelernt hatte. Offensichtlich war unsere Schule genauso gleichgeschaltet gewesen, wie alle anderen Bildungseinrichtungen in Deutschland. Da ich aus privatem Interesse von 2013 bis 2020 in Osteuropa gewesen war, um die Geschichte meiner Großeltern zu recherchieren, konnte ich Erlasse und Gesetze aus Berlin und Koblenz recht schnell einordnen. Es war alles sehr penibel dokumentiert und offensichtlich vollständig.
Schulleitungen sind einfach gute Staatsbeamte. Nach Ablauf eines jeden Schuljahres haben sie an den Träger, die NSDAP-Kreisverwaltung in Bad Kreuznach, detailliert gemeldet, wie „erfolgreich“ die Verordnungen und Gesetze der Nationalsozialisten umgesetzt worden waren. Wer in der HJ war, wurde an zwei Nachmittagen pro Woche von den Hausaufgaben befreit. Und nur wer im BdM (Bund deutscher Mädel) war, konnte zum Abitur zugelassen werden. Rassekunde löste Biologie ab. Die Listen, welche Bücher ab 1933 gelesen wurden, und welche verbrannt werden mussten, waren ebenfalls noch alle vorhanden. Bildungspolitik im „Dritten Reich“ bedeutete nach 1939, statt Aufsätze über Literatur zu schreiben aufmunternde Feldpostbriefe für unbekannte Soldaten zu verfassen. Selbstverständlich wurden nicht nur Hitlers Geburtstag, sondern auch die aller Reichsminister mit großen Feiern und viel Pomp in der Aula oder im Hof zelebriert. Meine Mutter war übrigens von 1942 bis 1949 an dieser Schule, und ich hatte mich immer gewundert, warum sie bis ins hohe Alter problemlos alle Geburtstage aus der NS-Führungsriege aufsagen konnte.
Ich habe dann in Fotos der Personalakten (alle, die vor 1924 geboren waren, durfte ich ansehen) nach Mitgliedschaften in der NSDAP bzw. NS-Organisationen durchforstet, um eine Excel-Tabelle zu erstellen, weil mich die Struktur interessierte. 1940 waren knapp 59 Prozent der Festangestellten (17 von 29) an der Elisabeth Charlotte-Schule (so hatten die Nationalsozialisten die Schule umbenannt) Mitglied in der NSDAP und 38 Prozent (11) Mitglied in NS-Organisationen. Alle Direktoren, die im Nationalsozialismus auf Lina Hilger folgten, waren – wie ihre NS-Akten belegen – Mitglied in der NSDAP. Lediglich Dr. August Kaiser galt als unbelastet, er hatte im Sommer 1945 von den französischen Besatzungsbehörden die Aufgabe übertragen bekommen, den Neuanfang einzuleiten und ehemalige NS-Mitglieder wieder im Schulbetrieb zu integrieren. Fast alle Lehrkräfte unserer Schule kehrten zwischen 1946 und 1951 nach einer Amnestie und/oder der Verhängung von Geldbußen in den Schuldienst zurück bzw. klagten sich auf dem Rechtsweg wieder ein. Bis weit in die 1970er Jahre unterrichteten etliche Lehrkräfte (so auch meine für Englisch, Mathe, Sport und Handarbeiten), die zwischen 1933 und 1945 Mitglied in der NSDAP gewesen waren, immer noch am Lina-Hilger-Gymnasium.
Es gab einige Lehrerinnen und Lehrer, die schon 1932 aus Überzeugung in die NSDAP eingetreten waren, da fiel das Urteil der Säuberungskommission härter (in der Regel Geldbuße) aus. Es gab eine Lehrerin, die in die NSDAP eingetreten war, „weil im Kollegium von Lina Hilger alle eher Linke, SPD und Zentrum" waren und sie ein politisches Gegengewicht im Kollegium schaffen wollte. Es gab eine Lehrerin für Deutsch- und Religionsunterricht, die eine glühende Nationalsozialistin war. Vor Gericht sagten Dr. Kaiser und mehrere Lehrerinnen, die als Zeugen geladen waren (sie hatte gegen ihre Kündigung Einspruch eingelegt): „Wenn sie ins Lehrerzimmer kam, verstummten die Gespräche im Kollegium“. Es gab den Direktor Hans Wendel, der im Januar 1945 die Eltern erpresste - wer seine Kinder nicht zur Kinderlandverschickung anmeldete, dessen Kinder dürften weder Abitur machen noch studieren. Und es gab eine Lehrerin, die in jede NS-Organisation eintrat, um als super linientreu wahrgenommen zu werden, weil sie ihre jüdische Lebensgefährtin schützen wollte. Doch dieser psychische Druck machte sie permanent krank. Eine Lehrerin wurde mehrfach versetzt (da gab es die Entnazifizierungsakte in NRW), weil sie sich weigerte, aus der katholischen Kirche auszutreten. Und es gab Klara Schütze, eine Lehrerin, die bereits 1933 entlassen worden war, weil sie als Sozialistin galt. Sie kam 1944 noch in Schutzhaft, weil die nationalsozialistische Kreisverwaltung in Kreuznach in Sorge war, dass sie politisch agitiere. Je nach Engagement, meine Englischlehrerin musste z. B. eine Geldbuße zahlen, weil sie nicht nur in der NSDAP war, sondern auch dort Funktionen wahrgenommen hatte, fiel die Strafe der Säuberungskommission sehr abgewogen aus. Übrigens einige Lehrerinnen traten 1939/1940 in die NSDAP ein, denn dann begann der Zweite Weltkrieg, und die Mitgliedschaft in der Partei wurde zum Karrieresprungbrett, weil plötzlich Stellen von (männlichen) Studienräten frei wurden.
In den Akten konnte man die gesamte Bandbreite an Menschlichem, was man sich vorstellen kann, finden. Geschätzt waren 30 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer vom Nationalsozialismus überzeugt, 30-50 Prozent sind die üblichen Mitläufer und ein kleiner Teil, wie Lina Hilger, Dr. Mathilde Gantenberg oder auch Dr. August Kaiser widersetzten sich und bezahlten im sogenannten Dritten Reich einen hohen Preis (Rausschmiss, Degradierung, finanzielle Einbußen, etc.). Dr. Jacobs, der Rabbi an unserer Schule, hatte Glück, er durfte 1938 aus dem KZ in Dachau in die USA emigrieren und überlebte. Die Gestapo hat übrigens Lina Hilger bis zu ihrem Tod 1942 überwacht, auch da fanden wir in Berlin im Bundesarchiv eine Karteikarte vom Reichssicherheitshauptamt, die sie als unzuverlässig einstuft.
Spannend war dann Akte über "meine" Direktorin Dr. Doris Köhler. Sie hat unser Lyzeum von 1963 bis 1974 als Oberstudiendirektorin geleitet und war bereits am 1. Mai 1937 in die NSDAP eingetreten. Es ist übrigens ein kleiner Krimi, wenn jemand die Besatzungszonen wechselte, verblieben die Akten dort, wo sie erstellt worden warden. D. h. die Akten der Amerikaner = Hessen sind heute in Wiesbaden, die Akten der Franzosen = Rheinland-Pfalz sind in Koblenz, die Akten derer, die nach oder aus NRW kamen, liegen in Düsseldorf, andere Bundesländer muss ich noch recherchieren, was wo gelagert ist für die Lehrerinnen und Lehrer, die aus der sowjetischen Zone nach 1945 an unsere Schule nach Bad Kreuznach wechselten. Dr. Doris Köhler schreibt 1946 bei ihrer Entnazifizierung in den Fragebogen der Amerikaner, dass sie kein NSDAP-Mitglied gewesen sei, sie gilt deshalb ab 1946 per Bescheid als unbelastet. 1947 kommt nach einer anonymen Anzeige heraus, dass sie Mitglied in der NSDAP gewesen ist und wird 1949 zu einem Sühnebescheid in Höhe von 600 Reichsmark verurteilt. Dagegen legt sie (Deutschland lebt ja wieder im Rechtsstaat) mit einer eidesstaatlichen Erklärung ihres Vaters, dass er sie ohne ihr Wissen 1934 in der NSDAP angemeldet haben will, Widerspruch ein. Und dann hat sie unfassbares Glück, die Entnazifizierung in Deutschland wird im November 1949 quasi beendet, dadurch entfällt die Rechtsgrundlage, und ihr Verfahren wird 1950 eingestellt. Mit dem ersten Bescheid von 1946, der sie als "unbelastet" einstuft, hatte sie sich übrigens 1948 als Lehrerin nach Düsseldorf (britische Zone) beworben, und von dort geht es 1962 nach Bad Kreuznach (RLP = ehemalige französische Zone) ans Lina-Hilger Gymnasium. Fakt ist, dass sie von ab 1941 bis 1945 in Marburg für Prof. Dr. Richard Benzing, den Leiter der Ärztekammer Hessen-Nassau und Träger des Goldenen Ehrenzeichens der NSDAP, am Institut für Nationalsozialistische Volkspflege in der Rassismusforschung als Psychologin gearbeitet hat, dem Herausgeber des NS-Buches "Gesundheitsfürsorge für Mutter und Kind", ein Buch, dass nach dem Krieg in der DDR auf die Liste der auszusondernden Literatur gesetzt wurde. Ihre Akte und ihre Chuzpe haben alle am meisten berührt.
Da unsere Schule mit Blick auf die jetzt vorliegenden Akten offensichtlich genauso gleichgeschaltet war, wie alle anderen Schulen in Deutschland, soll es nach den Ferien eine Arbeitsgruppe aus interessierten Lehrerinnen und Lehrern geben, um mit ihnen die Festschrift zum 125-jährigen Jubiläum im Jahr 2028 sauber aufzuarbeiten. Ich habe vorgeschlagen, Räume wie unseren Chemie-Saal oder die Aula oder die Kunsträume nach den zwölf Lehrerinnen und Lehrern (die das Fach lehrten) umzubenennen, um sie posthum dem Vergessen „zu entreißen“, denn Lina Hilger war 1933 nicht die Einzige war, die gehen musste, sondern alle, die ihre fortschrittliche Pädagogik mitgetragen hatten. Und nach allem, was wir jetzt wissen, muss die wahnsinnig intensive Integrationsarbeit von Dr. Kaiser und sein Engagement im Wideraufbau nach 1945 gewürdigt werden.
Uns hat bei der Recherche unfassbar geholfen, dass im Schularchiv vom Li-Hi die sogenannten Säuberungsbescheide von 1947 aufbewahrt waren. Das Ergebnis der Recherche haben wir am 27. Juni der Gesamtkonferenz des Lina-Hilger-Gymnasiums auf Wunsch des Direktors präsentiert und letzten Montag den Medien gezeigt. Nun gilt es, das alles bis 2028 aufzuarbeiten. Dazu braucht es Unterstützung, und ich hoffe, Interessierte zu finden, um dieses Projekt zu stemmen.