von Petra Tursky-Hartmann
(erschienen im Vorwärts, Ausgabe Hessensplit 10/2013)
"Moin,
moin“, begrüßt uns ein sichtlich ausgeschlafener Olaf Scholz, Regierender
Bürgermeister von Hamburg. Der ist die frische Brise um diese
Zeit gewohnt, denke ich und fröstele mit dem Dutzend verschlafener Enten auf
der gegenüberliegenden Sommerwiese. Loti und Don erstürmen die Bühne und rocken
los. „Viertel nach fünf, auf der ersten Schicht, das Fließband fließt, sie
beklagen sich nicht …“ Ernst-Ewald Roth wippt vergnügt mit dem Fuß im Takt.
„Gerechtigkeit macht stark!“ Wir schauen uns an. Das Ding ist im Ohr.
Es
ist früh. Und es ist arg frisch, als wir am 24. August in Wiesbaden in die
heiße Wahlkampfphase starten. Wir, das sind Thorsten Schäfer-Gümbel, seine Frau
Annette, Bärbel Feltrini und Matthias Kollatz-Ahnen von der Mannschaft für den
Wechsel, eine Gruppe Journalisten und Hans und Johanna aus der Wahlkampf-WG.
Und Wilfried, seines Zeichens SPD-Landesgeschäftsführer und heute Herrscher
über Ankunfts- und Abfahrtszeiten. Gemeinsam mit Lothar Pohl, genannt Loti und
„Ex“-Cracker und Don Weaver erklimmen wir unseren „Unterwegs für den Wechsel“-Bus.
Vor uns liegen sechsmal Uraufführung von „Gerechtigkeit macht stark“ und 500
Kilometer quer durch Hessen. Ein bisschen fühlt es sich an wie Welttournee, als
Herr Böhm seinen 16-Tonner mit viel Gefühl Richtung Bahnhofsvorplatz lenkt.
Moin, moin in
Wiesbaden
„Für
uns ist nur sozial, was Arbeit schafft, von der man leben kann“, greift TSG die
Zeile auf. Beifall von den Genossinnen und Genossen, die frisch gebrühten Kaffee
ausschenken. „Ja zum gesetzlichen Mindestlohn! Ja zur Bekämpfung des
Missbrauchs der Leiharbeit!“ Ein paar Passanten bleiben neugierig stehen.
Langsam kommt Schwung in die Sache. „Wir machen Schluss mit der sachgrundlosen
Befristung.
Darum
geht es am 22. September!“ Heidemarie Wieczorek-Zeul, die Grand-Dame der
Wiesbadener SPD, klatscht wohlgefällig. „Noch 29 Tage,
8 Stunden und 32 Minuten!“ TSG schaut fröhlich auf seine Uhr. „Der Wechsel
ist in Sicht!“, verkündet er.
Klaus Wowereit in
Darmstadt
Der
Friedensplatz ist rappelvoll. 650 Genossinnen und Genossen feiern mit Freunden
unter strahlend blauem Himmel. Loti und Don erstürmen die Bühne, Welturaufführung
für Gerechtigkeit zum Zweiten. „Hat die Familie Kohle, wird das Studium nett …“
Jubel brandet in der hessischen Wissenschaftsstadt auf. Der Song ist die
perfekte Steilvorlage für den aus Berlin angereisten Klaus Wowereit. „Ja!“,
ruft er den Darmstädtern zu, „wir wollen mehr Geld für Bildung! Deshalb erhöhen
wir die Spitzensteuersatz auf 49 Prozent!“
Dann
greift TSG nach dem Mikro. Die SPD werde G8 abschaffen und zur sechsjährigen
Mittelstufe zurückkehren, verspricht er. Denn „das ist eine Frage des Respekts vor
der Begabung eines jeden Kindes“. Jubelnder Applaus, zustimmend nickende Köpfe.
Eine Mutter hält ihr Baby hoch und knuddelt es liebevoll, als der
Spitzenkandidat der SPD „Echte Ganztagsschulen sind mehr als ein warmes Mittagessen!“
ruft. In Hessen liegt Rot-Grün in Umfragen knapp vor Schwarz-Gelb. Aber wir
wollen am 22. September ja nicht die Umfragen, sondern die Wahlen gewinnen. „Im
Bund wird es enger, als viele glauben! Und im Land wird es klarer, als viele denken“,
schwört Thorsten die Darmstädter zum Abschied kämpferisch ein. „Noch 29 Tage, 6 Stunden und 21 Minuten!“
Im
Bus geht es ein bisschen zu wie früher auf Klassenfahrten. Den meisten Spaß
haben die in den hinteren Reihen. Don stimmt
„Country roads, take me home“, den Klassiker von John Denver, an. Die Mittagssonne flirrt
hinter den Panoramascheiben über abgemähten Weizenfeldern. „In den Masuren
sammeln sich bald die Störche zum Formationsflug“, erzählt Matthias Kollatz-Ahnen,
im Team zuständig für Wirtschaft, Wohnen und Finanzplatz, vom Urlaub. Mein
Blick geht nach draußen und mich beschleicht das Gefühl, dass auch die Hessen
in den kommenden Wochen auf Kurs gehen.
Gute Bildung in Nidda
Als
wir den voll besetzten Marktplatz in Nidda erreichen, brennt die Sonne.
Welturaufführung die Dritte, zwischen historischem Brunnen, einem Oldtimer der
Feuerwehr und zauberhaften Fachwerkhäuschen. „Ich freue mich, wenn wir endlich
gemeinsam gute Bildungspolitik machen“, empfängt Malu Dreyer, die
Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, die Wahlkampfcrew. Damit kein Hesse
mehr neidisch nach Rheinland-Pfalz schauen müsse, ergänzt sie sichtlich
amüsiert. Kein Problem, versprich TSG. „In 29 Tagen, 4
Stunden und 12 Minuten“ wäre es dann so weit.
Und
während der SPD-Chef geduldig alle Foto- und Autogrammwünsche erfüllt, haben
Loti und Don das lokale Eiscafé erobert. Zwei riesige Erdbeerwaffeln wandern in
unseren Setra, ein Dreiachser mit neuester BlueTec-Technologie. Mit
„Oberhessischer Dampfmusik“ im Rücken geht es „zum Städele hinaus…“, Richtung Nord-Ost.
Auf
dem Weg nach Bad Hersfeld passieren wir auf der B 457 die Abfahrt nach Birklar.
Dort, am Rande der Wetterau, lebt der SPD-Chef mit seiner Familie.
Dass Thorsten Schäfer-Gümbel gute Chancen hat, seinen Wahlkreis am Rande des
Vogelsbergs am 22. September direkt zu gewinnen, prognostiziert nun auch die
Internetplattform „election.de“.
In
der Kur- und Festspielstadt werden wir bereits sehnsüchtig erwartet. Von
Michael Roth, dem Generalsekretär der Hessen-SPD, der an diesem Samstag auch
seinen Geburtstag feiert. Für ihn schmettern Loti und Don aus vollen Kehlen,
dass alle gleich sind, „ob Arm oder Reich“, und dann gibt’s selbstverständlich mit
400 Genossinnen und Genossen ein Geburtstagsständchen.
Der Duft von frisch
gegrillter Bratwurst hängt über
dem beschaulichen Kurpark. Offensichtlich machen wir auf die Damen der
Arbeiterwohlfahrt einen arg verhungerten Eindruck. Ein kurzer Blick, dann
packen sie fest entschlossen Dutzende von Aprikosen- und Streuselteilchen, Stracciatella-Törtchen
und Marmorkuchen unter Schokoguss für uns zusammen. „Lecker“, strahlt Bärbel
Feltrini, zuständig im Team von TSG für Arbeit, Ausbildung und Soziales.
Seit’ an Seit’ in Bad
Hersfeld
Sichtlich
berührt ist auch Hans Eichel, der ehemalige SPD-Ministerpräsident, der 1999 von
Roland Koch mit dessen unsäglicher Unterschriftenaktion und finanziert aus
Liechtensteiner Honigtöpfen brutalstmöglich aus dem Amt gejagt worden war. „In
diesem Land gibt es genügend Geld, um Krankenschwestern und Polizisten anständig
zu bezahlen. In diesem Land gibt es auch genügend Geld, um den ländlichen Raum
zu fördern. Wir müssen das Geld nur eintreiben!“, mobilisiert Thorsten derweil
selbstbewusst die begeisterten Anhänger. „Ich will null Toleranz für
Steuerflucht und Steuerhinterziehung!“, fordert er und klopft dem sichtlich
ergriffenen Hans Eichel aufmunternd auf die Schultern. „Noch
29 Tage, 2 Stunden und 13 Minuten!“
Eigentlich
müssten wir jetzt schon längst in Kassel sein. Doch Loti, Don und Michael Roth
hat die Welturaufführung für Gerechtigkeit auf den Geschmack gebracht. Fröhlich
stimmen sie „Wann wir schreiten Seit' an Seit' “ an.
Vorne
im Bus hängen später die Journalisten an den Lippen von Hans Eichel, der sich spontan
entschieden hat, den SPD-Chef nach Kassel zu begleiten. Er erzählt von
„damals“, als er mit Jean-Claude Juncker, den er schelmisch als „Le Schlitzohr“
bezeichnet, über den Euro verhandelt habe. Hinten im Bus interviewen derweil
Hans und Johanna Annette Gümbel für die Wahlkampf-WG. Die beiden interessiert mehr,
wie sie ihren Mann kennengelernt hat. „Damals“, als er flammende Juso-Reden
gehalten hat und sie wohl ziemlich lässig mit dem Motorrad zur Uni gefahren
ist.
Party in Kassel
In
Kassel ist die Stimmung ausgelassen. Ist ja auch kein Wunder, denke ich, das
sind die absoluten Feierprofis. Wer 1.100 Jahre Stadtrechte, zehn Tage Hessentag
und ein UNESCO-Weltkulturerbe stemmt, dem ist doch vor einer Landtags- und
einer Bundestagswahl nicht bang. Die knapp 900 Sozialdemokratinnen und
Sozialdemokraten auf dem Schlossplatz um den SPD-Bezirksvorsitzenden Manfred
Schaub demonstrieren eindrucksvoll, warum Hessen „da oben“ fest in roter Hand ist.
„TSG“, ruft Wolfgang Decker von der Bühne, „TSG steht für Thorsten soll
gewinnen!“ Applaus. Gejohle, Schenkelklopfen.
„Der Ehrliche darf nicht der Dumme
sein!“, fordert anschließend der SPD-Spitzenkandidat und
dankt Stephan Weil, dass der als Ministerpräsident von Niedersachsen mit dafür
gesorgt hat, dass das unsägliche Steuerabkommen von der schwarz-gelben Bundesregierung
mit der Schweiz im Bundesrat gestoppt wurde. Allein in Hessen hat es seitdem eintausend
zusätzliche Selbstanzeigen gegeben, die 460 Millionen Euro in die hessischen Kassen
gespült haben. „Peer Steinbrück hat die Kavallerie erfunden“, ruft Thorsten den
Anhängern um seine nordhessischen Mannschaftsmitglieder Günter Rudolph und
Susanne Selbert
energisch zu. „Lasst uns dafür sorgen, dass sie in 29
Tagen und 35 Minuten endlich ausrückt!“
Auch
für uns geht’s im Sturmlauf zum Bus, wir rücken in den „Swing State Fulda“ aus.
In Eichenzell, unserer letzten Station für den heutigen Tag, warten immer noch
250 Sozialdemokraten geduldig auf den SPD-Spitzenkandidaten. Auf Wunsch des niedersächsischen
Ministerpräsidenten – der sich riesig über den Heimsieg von Hannover 96 freut –
singen Loti und Don „Knockin’ on Heaven’s Door“.
Solidarität statt
Ellenbogen
„Was
wird von Angela Merkel bleiben?“, fragt Stephan Weil später im Gemeindesaal in
Eichenzell. Pause. „Genau! Mir fällt da auch nicht allzu viel ein!“ Statt „Jahr
für Jahr mehr Mehltau“ empfiehlt er den Genossinnen und Genossen mehr Gerechtigkeit.
„Überall, wo wir heute waren, war Sonnenschein“, zieht Thorsten Schäfer-Gümbel
hemdsärmelig zum Abschied Bilanz. Selbst in Fulda regne es nicht, wenn die Sozialdemokratie
komme. Im Saal verspürt man mehr als gelöste Heiterkeit. Am 22. September gehe
es letztendlich auch um eine Haltungsfrage, verabschiedet sich der
SPD-Spitzenkandidat. „Es geht jetzt um Ellenbogen oder Solidarität!“ Viele
nicken zustimmend. „Wenn die Marktradikalen sagen, wenn jeder an sich denkt,
ist an alle gedacht, dann ist das falsch. Genossinnen und Genossen, der Wechsel
ist in Sichtweite. Noch 28 Tage, 22 Stunden und 29
Minuten.“
"Moin, moin“, begrüßt uns ein sichtlich ausgeschlafener Olaf Scholz, Regierender Bürgermeister von Hamburg. Der ist die frische Brise um diese Zeit gewohnt, denke ich und fröstele mit dem Dutzend verschlafener Enten auf der gegenüberliegenden Sommerwiese. Loti und Don erstürmen die Bühne und rocken los. „Viertel nach fünf, auf der ersten Schicht, das Fließband fließt, sie beklagen sich nicht …“ Ernst-Ewald Roth wippt vergnügt mit dem Fuß im Takt. „Gerechtigkeit macht stark!“ Wir schauen uns an. Das Ding ist im Ohr.